Nikita

Ein Film von Luc Besson

Genre: Thriller

 | Strömung: Cinéma du look

 | Erscheinungsjahr: 1990

 | Jahrzehnt: 1990 - 1999

 | Produktionsland: Frankreich

 

Mit Nikita gelang Luc Besson der internationale Durchbruch. Der Regisseur gießt den Thriller in die Form des Cinéma du look und verleiht ihm damit eine unwirkliche Note: Das Geschehen kennt nur den Ausnahmezustand und changiert zwischen brachialer Gewalt und märchenhafter Hoffnung.

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Filmkritik:

Im Zentrum des Films steht der unfreiwillige zweite Karriereweg der Titelheldin. Die drogensüchtige Punkerin wird nach dem Mord an einem Polizisten zu lebenslanger Haft verurteilt, um kurz darauf in einer neuen Zelle aufzuwachen. Ein Regierungsmitarbeiter teilt ihr mit, sie sei offiziell durch Suizid verstorben, bekomme aber eine zweite Chance: Nikita darf weiterleben, wenn sie sich zur Agentin ausbilden lässt. Ihr bleibt keine andere Wahl, als ein neuer Mensch zu werden.

Schon die mitreißende Eröffnungssequenz dient als Standortbestimmung der nächsten anderthalb Stunden: Raue Bilder, kaputte Figuren und brachiale Gewalt etablieren eine lebensfeindliche Stimmung. Die Musikvideoästhetik nahm die Inszenierung von Filmen wie Natural Born Killers oder Dobermann vorweg und ist charakteristisch für das Cinéma du look.

Die französische Strömung besitzt große Ähnlichkeit mit dem Poetischen Realismus: Auch hier kämpfen gewöhnliche Menschen um ihr individuelles Glück und werden vom übermächtigen Schicksal an der Erfüllung ihrer Träume gehindert.

Formal setzen beide Strömungen auf Stilisierung: Das Ziel ist nicht die Abbildung der Realität, sondern eine künstlerische Vision von möglichst großem Effekt. Das Cinéma du look transportiert den Poetischen Realismus in das MTV-Zeitalter: mit Neon statt Schwarz-Weiß und echten Großstadtschauplätzen statt Studiokulissen.

Die Nähe zu Musikvideos und TV-Werbung spiegelt sich in einer aufs Nötigste reduzierten Erzählweise wider. Nikita verzichtet auf Alltagsszenen und eine kohärente Zeitebene, schildert den Werdegang seiner Protagonistin lediglich in Auszügen. Die Figuren werden nicht ausgestaltet, sondern bleiben grob schraffierte Skizzen. Ihre Persönlichkeit äußert sich nur über ihr Tun – sie treiben nicht die Handlung voran, sondern stehen – wie die Bilder und der treibende Sound von Eric Serra – ganz im Dienst der Stimmung.

Aus dem lückenhaften Erzählen zieht Nikita seine Stärken: Da wir die Figuren nie ganz durchschauen, umgibt sie stets eine mysteriöse Aura. Nikitas Handeln bleibt in der ersten Filmhälfte unvorhersehbar und auch die Nebenfiguren hinterlassen einen bleibenden Eindruck, weil wir ihnen nie in die Karten schauen können.

Am deutlichsten äußert sich das in der faszinierenden Figur von Nikitas Ausbilder mit dem Decknamen Bob. Er ist der Fixpunkt der ersten Filmhälfte und wird von Tchéky Karyo mit enormem Charisma gespielt. Karyo vereint das Lächeln eines gütigen Vaters mit der Eiseskälte eines Raubtieres. Wir wissen nie, ob er Nikita loben oder quälen wird; bisweilen tut er beides gleichzeitig.

Dass uns Nikitas Schicksal überhaupt tangiert, ist auch eine Leistung des Films – schließlich gewinnt sie als asoziales Drogenwrack keinen Sympathiewettbewerb. Doch Besson platziert inmitten des Thriller-Konstruktes Elemente einer Tragikomödie, um uns der Protagonistin näher zu bringen. Wenn Nikita ihren Karateausbilder beißt oder die Zielscheiben des Schießstandes mit Dauerfeuer zerfetzt, dann können wir gar nicht anders, als die herrlich unprätentiöse Art der jungen Frau zu mögen.

Auch nach Nikitas Ausbildung, die eine Dreiviertelstunde der Spielzeit einnimmt, behält der Film sein Tempo. Besson schildert das neue Leben seiner Protagonistin wie ein Märchen – nach dreijähriger Gefangenschaft gerät selbst ein Lebensmitteleinkauf zu etwas Besonderem. Dem Film gelingt es glänzend, die Magie von Nikitas Neuanfang zu transportieren, doch daraus zieht er auch seine Tragik. Nikita lebt, doch der Tod wird ihr ständiger Begleiter; sie hat keinerlei Chance auf Normalität und bleibt eine Sklavin des Geheimdienstes.

In der zweiten Filmhälfte verläuft Nikita konventioneller und schickt seine Protagonistin auf eine Reihe von Einsätzen. Im eskalierenden Finale greift Luc Besson auf einen alten Bekannten zurück. Sein Low-Budget-Debüt Der letzte Kampf ebnete nicht nur dem Regisseur, sondern auch einem unbekannten Schauspieler namens Jean Reno den Weg ins Filmgeschäft.

Der Beginn einer langen Kollaboration, die fünf Filme in Folge umfasste. In seiner Nebenrolle als Cleaner („Victor, Reinigungsmann.“) überzeugt Reno trotz wenig Screentime. Der Part ist auch in einem anderen Kontext wichtig: Victor sollte der Prototyp einer Figur werden, mit der Reno und Besson vier Jahre später Weltruhm ernteten – der Auftragskiller Léon.

Der hohe Unterhaltungswert von Nikita resultiert auch aus den exzellenten Actionszenen. Besson entschied sich für eine realistische Darstellung der Waffengewalt, die gerade deshalb so brachial wirkt und überdies gut gealtert ist. Dennoch verkommt der Film nie zum reinen Actionvehikel – Nikitas tragisches Leben steht im Vordergrund. Das macht sich auch im wunderbar leisen Finale bemerkbar, das uns mit viel Melancholie zurücklässt.

★★★★★☆

1990 – 1999

In den Neunziger Jahren wurden Filme ein Objekt der Popkultur. Die amerikanische Vermarktung erhob Blockbuster zum Massenphänomen, das weit über den Filmkonsum hinaus ging. Zeitgleich bildeten eine lebendige Independentfilmszene und ein erstarktes Arthousekino den Gegenpol. Auch dank der VHS-Kassetten entwickelte das Medium Film eine ungeahnte Vielfalt.

Thriller

Ähnlich wie der Actionfilm basiert auch das Thriller-Genre nicht auf inhaltlichen, sondern auf formalen Gesichtspunkten. Eine größtmögliche, im Optimalfall konstant gehaltene Spannung ist das Ziel. Dafür bedienen sich Thriller in der Regel einer konkreten Bedrohungslage. Wird die Gefahr überwiegend über Andeutungen und Suspense transportiert, findet gerne der Terminus Psychothriller Anwendung.