Vierundzwanzig Augen

Ein Film von Keisuke Kinoshita

 

 | Erscheinungsjahr: 1954

 | Jahrzehnt: 1950 - 1959

 | Produktionsland: Japan

 

Vierundzwanzig Augen zählt zu den renommiertesten Klassikern des japanischen Kinos – aber nur in Japan selbst, international ist der Film von Keisuke Kinoshita weniger populär. Eine Entdeckung lohnt es sich ungemein: Kinoshita nutzt die Mittel des Melodrams für einen niederschmetternden Antikriegsfilm.

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Filmkritik:

Vierundzwanzig Augen schildert die Beziehung zwischen einer jungen Lehrerin und den Schülern ihrer ersten Grundschulklasse über einen Zeitraum von 20 Jahren, von 1928 bis 1948. Obwohl das Geschehen in einer ländlichen Gemeinde weitab des Weltgeschehens spielt, brechen der aufkommende Nationalismus und schließlich der Zweite Weltkrieg in die Idylle ein und reißen die Gemeinschaft auseinander.

Das japanische Kino blühte nach dem Ende des Krieges wieder auf. Das Filmjahr 1954 steht dabei beispielhaft für die goldene Ära des japanischen Kinos: Die größten Regisseure ihrer Zeit veröffentlichten allesamt Meilensteine ihres Schaffens. Wenige Monate nach Yasujirō Ozus Die Reise nach Tokio folgten Akira Kurosawas Die sieben Samurai und Kenji Mizoguchis Sansho Dayu. Außerdem erschienen u. a. zwei Werke von Mikio Naruse und der legendäre Monsterfilm Godzilla.

Trotz dieser enormen Konkurrenz räumte Keisuke Kinoshitas Vierundzwanzig Augen bei den nationalen Preisverleihungen die wichtigsten Ehrungen ab und gewann sogar einen Golden Globe in den Vereinigten Staaten. Zudem erwies sich der Film als Kassenschlager, denn er traf einen Nerv: In einer Zeit, in der die Verarbeitung der Weltkriegsniederlage noch nicht abgeschlossen war, erlebte das Publikum mit Vierundzwanzig Augen eine kathartische Filmerfahrung.

Ein wesentlicher Baustein dafür war der Handlungsort des Films. Die im Seto-Inlandmeer liegende Insel Shodoshima steht sinnbildlich für das alte Japan: Eine ländliche Idylle, in der die Uhren langsam laufen und die Menschen ein einfaches Leben führen. Diese heile Welt verkörpert jene Werte, die im Nachkriegsjapan verloren erschienen: Unschuld, Reinheit, Gemeinschaft.

Im Jahr 1928 bedurfte es nicht viel, um auf Shodoshima für Aufregung zu sorgen – eine junge Frau auf einem Fahrrad etwa, insbesondere wenn diese keinen Kimono, sondern westliche Kleidung trug. So wird die Lehrerin Frau Ōishi eingeführt, die mit ihrer frischen Ausbildung im Gepäck aus der Weite Japans in die Gemeinde versetzt wird, um die zwölf Erstklässler der örtlichen Grundschule zu unterrichten.

Die Darstellung der Frau Ōishi war die erste Meisterleistung der 30-jährigen Hauptdarstellerin Hideko Takamine, die zuvor schon unter Yasujirō Ozu in Die Schwestern Munekata aufgetreten war und im Lauf der Fünfziger Jahre zu den besten Schauspielerinnen Japans aufsteigen sollte. Nach Vierundzwanzig Augen spielte sie die Hauptrollen in Mikio Naruses Meisterwerken Floating Clouds und When a Woman Ascends the Stairs, auch in ihrer erneuten Zusammenarbeit mit Kinoshita in Eine unsterbliche Liebe ist sie überragend.

Die erste Filmhälfte von Vierundzwanzig Augen widmet sich dem Culture Clash zwischen der modernen Frau aus der Großstadt und den konservativen Landbewohnern, vor allem aber baut der Film eine herzliche Beziehung zwischen Frau Ōishi und ihren Schülern auf. Kinoshita gelingen berührende Szenen der Annäherung, die im Zusammenspiel mit den malerischen Bildern eine sentimentale Stimmung erzeugen.

Allerdings ist der Film weit entfernt von jedem Kitsch, er zeigt auch die Schattenseiten Shodoshimas: Die Kinder leben in ärmlichen Verhältnissen und müssen nach der Schule bei der Arbeit aushelfen; schon ein eintägiger Schulausflug stellt eine finanzielle Belastung für die Familien da. Das Leben auf Shodoshima wartet noch auf den technischen und gesellschaftlichen Fortschritt.

Doch das Kaiserreich Japan entwickelt sich in eine gänzlich andere Richtung: Ein neuer Nationalismus greift um sich. Im Mittelteil des Films werden vermeintliche Kommunisten unter der Lehrerschaft gesucht und entfernt. Die Politik beginnt, den öffentlichen Raum einzunehmen. Alle jungen Knirpse wollen nun Soldaten werden. Schließlich tritt Japan in den Zweiten Weltkrieg ein und Vierundzwanzig Augen wandelt sich zum Antikriegsfilm.

Dabei löst Kinoshita das grundlegende Problem des Genres: Die meisten Antikriegsfilme zeigen das Geschehen auf den Schlachtfeldern und setzen zwangsläufig Mittel des Unterhaltungskinos ein, um zuschauerkompatibel zu machen, was nicht mal menschenkompatibel ist. Vierundzwanzig Augen bleibt hingegen auf Shodoshima verortet und zeigt nicht den Krieg, sondern nur dessen Konsequenzen. Damit verdeutlicht Kinoshita, dass die Schrecken, die sich irgendwo in der weiten Welt abspielen, bis ins beschauliche Shodoshima reichen und selbst dort tiefe Wunden schlagen.

Für die japanische Perspektive des Jahres 1954 wagte Kinoshita eine unerhört deutliche Kritik. Er nimmt dem Nationalismus jeden Nutzen und dem Krieg alles Heroische. Hier ziehen junge Männer für etwas Abstraktes in die Ferne und kehren niemals zurück. Vierundzwanzig Augen verdeutlicht, dass das Kaiserreich den Krieg auf dem Rücken seiner Bürger austrug und betont den Preis, der dafür zu zahlen ist: Am Ende des Films lebt von den Kindern der Grundschulklasse des Jahres 1928 kaum noch jemand.

Trotz allen Sentiments ist Vierundzwanzig Augen gegenüber seinen Figuren ein zutiefst unbarmherziger Film. Die wenigen Überlebenden sind ebenfalls Opfer – sie sind die Übriggebliebenen, Reste eines untergegangenen Japans, für immer kaputt. Auf Shodoshima ändert sich unterdessen nichts. Die Sonne scheint, das Meer rauscht, die Bäume blühen – dass der Tonfall über die 156-minütige Spielzeit hinweg unverändert bleibt und damit alle Tragik ignoriert, vermittelt uns ein Gefühl absoluter Ohnmacht. Die Opfer verblassen, übrig bleibt ein fernes Echo in unseren Erinnerungen.

Zwar gibt uns Kinoshitas Humanismus Grund zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft – am Ende des Films wird Frau Ōishi wieder unterrichten und eine neue Generation von Erstklässlern unter ihrer Fittiche nehmen – zugleich belässt der Regisseur einen Schatten über dem Geschehen. Die Erstklässler des Jahres 1928 lärmten und zappelten in ihrer ersten Schulstunde; die Kinder des Jahres 1948 sitzen still an ihren Tischen und rufen brav „Ja!“, wenn sie aufgerufen werden. Kleine ernste Menschen einer traumatisierten Nation.

★★★★★☆

1950 – 1959

In den Fünfziger Jahren befanden sich die weltweiten Studiosysteme auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft. In den Vereinigten Staaten, Japan und Frankreich versammelten die Studios eine ungeheure Menge an Talent und veröffentlichten dank des geballten Produktionsniveaus zahllose Meisterwerke. Einen gewichtigen Anteil daran ist auch den Regisseuren zuzuschreiben, die sich innerhalb des Systems Freiheiten erkämpften und so ihr Potenzial ausspielen konnten.

(Anti)Kriegsfilm

Obwohl das Genre auf ein spezifisches Thema festgelegt ist, bieten sich dem Betrachter eine Vielzahl Subtexte und Motive. Während Kriegsfilme sich vornehmlich auf Abenteuer, Kameradschaft und Heldenmut konzentrieren, eröffnen sich im Antikriegsfilm eine Vielzahl von Themen: Moral und Menschenrechte, der Horror und die Absurdität des täglichen Grauens oder die perverse Systematik dahinter.