Red Angel

Ein Film von Yasuzō Masumura

 | Strömung: Japanische Neue Welle

 | Erscheinungsjahr: 1966

 | Jahrzehnt: 1960 - 1969

 | Produktionsland: Japan

 

Red Angel bietet eine durchweg finstere Filmerfahrung: Der japanische Antikriegsfilm trägt den Zweiten Weltkrieg nicht auf Schlachtfeldern, sondern in der Gefühlswelt seiner Figuren aus. Ein alles durchdringender Nihilismus beherrscht das Szenario; dem stellt Yasuzō Masumura einen letzten Funken Menschlichkeit entgegen.

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Filmkritik:

In Red Angel erleben wir den Zweiten Weltkrieg an der Seite der Krankenschwester Nishi, die in einem Feldlazarett nahe der mandschurischen Front arbeitet. Masumura verzichtet auf eine Zurschaustellung des Kriegsgeschehens und spart somit auch Action, Pathos und Heldentum anderer Genrevertreter aus. Er zeigt lediglich die Ergebnisse der Gefechte: Wagenladungen von Verletzten und ein endloses, elendiges Verrecken.

Das Lazarett ist eigentlich ein Fleischwolf, der aufgrund der Zeit- und Ressourcenknappheit nur zwei Optionen für die Soldaten vorsieht: Entweder werden sie zum Sterben im Hof liegengelassen oder sie erhalten eine Amputation ohne Betäubung. Am Ende der 48-Stunden-Schichten füllen die abgesägten Gliedmaßen Dutzende Bottiche.

Selten ist man so froh, einen Film in Schwarz-Weiß zu schauen. Dabei muss Masumura die Kamera gar nicht auf die offenen Wunden richten, die gnadenlose Tonspur verdeutlicht den Horror zur Genüge: Das Ritschen und Ratschen der Knochensäge nagt an den Nerven.

Yasuzō Masumura lernte bei den Großmeistern Kenji Mizoguchi und Kon Ichikawa, um anschließend das junge wilde Kino der Japanischen Neuen Welle mitzugestalten. Ähnlich wie sein amerikanischer Kollege Samuel Fuller drehte er unwiderstehliche B-Movies und trotzte den kleinen Budgets mit großem Einfallsreichtum. Masumura changiert zwischen Kunst und Pulp; er steht für Genrekino mit doppeltem Boden, das mal spielerisch und mal rabiat, aber immer kompromisslos auf die wunden Punkte der Gesellschaft zielt.

Eine weitere Gemeinsamkeit zu Samuel Fuller: Beide Regisseure starten bevorzugt mit einem Knalleffekt. In Red Angel wird die noch naive Schwester Nishi bei ihrer ersten nächtlichen Visite von mehreren Soldaten vergewaltigt. Eine Strafe müssen die Männer nicht befürchten, denn am nächsten Tag geht es für sie ohnehin zurück an die Front und in den sicheren Tod.

Dieser Auftakt etabliert den finsteren Tonfall des Films und illustriert grundsätzliche Prinzipien für den Rest der Spielzeit. Zum einen reift die Erkenntnis, dass die Soldaten rigoros entmenschlicht wurden – der Krieg nahm ihnen erst die Freiheit, dann die körperliche Unversehrtheit und schließlich jedes innere Empfinden. Ein Soldat, das ist kein Mensch, sondern Kriegsmaterial, das repariert werden muss oder als verbraucht deklariert wird.

Zum anderen versteht Schwester Nishi, dass die Vergewaltigung keine niederen Triebe bediente, sondern ein existenzialistisches Bekenntnis ausdrückt: Im Sex steckt ein verzweifelter Griff nach dem Leben und ein letzter Akt des Widerstandes gegen den Tod. Aus dieser Erkenntnis heraus widmet sich Nishi ihren Patienten nicht länger nur medizinisch; sie schenkt den Krüppeln und Versehrten ihren Körper und pflegt so deren Seele.

Indem Masumura die Schlachtfelder der Außenwelt ins Innere der Figuren verlegt, transformiert er den Antikriegsfilm zum Melodram. Ein typischer Schachzug des Regisseurs, der oft den Mantel des Genrekinos nutzte, um seine eigentlichen Themen zuzuspitzen. Schon in Der schwarze Testwagen verpackte Masumura seine Kapitalismuskritik als Krimi, in Giganten und Spielzeuge ging er dasselbe Thema als satirische Komödie an.

In Red Angel bricht er das Szenario des Antikriegsfilms mit den Methoden des Melodrams auf und treibt dessen typische Motive – das Individuum im Konflikt mit der Umwelt – ins Extrem. Kämpfen die Protagonisten im Melodram normalerweise mit bürgerlichen oder moralischen Konventionen, negiert der Kriegshorror alle menschgemachten Konzepte.

Dennoch bleibt das Grundprinzip des Melodrams bestehen: Nishi lebt in einer Welt aus Blut und Tod, doch obwohl der Nihilismus des Krieges ihr Leben komplett durchdrungen hat, ringt sie in ihrem Inneren um den letzten Funken Menschlichkeit. Red Angel bearbeitet diesen Konflikt exzellent und beschwört trotz seiner allumfassenden Schwärze einen magischen Humanismus – auch eine Leistung der starken Hauptdarstellerin Ayako Wakao.

Das emotionale Zentrum bildet die Beziehung zwischen der Krankenschwester und ihrem morphiumabhängigen Vorgesetzten Dr. Okabe, der jegliche Teilhabe am Leben aufgegeben hat. Die fragile Rückbesinnung auf ein zwischenmenschliches Beisammensein inszeniert Masumura mit großer Zärtlichkeit und setzt die überwiegend platonische Intimität der beiden in Gegensatz zur extremen Situation um sie herum.

So gelingt Masumura ein durchweg grimmiger Antikriegsfilm, der sich allerdings nie im Leid suhlt, sondern selbst dann noch nach humanistischen Idealen tastet, wenn schon alles verloren scheint.

★★★★★☆

1960 – 1969

Die Sechziger Jahre zählen zu den revolutionärsten Jahrzehnten der Kinogeschichte. Mehrere Strömungen – die neuen Wellen – verschoben künstlerische Grenzen und modernisierten die Filmsprache. Viele Regisseure ließen die themen der vorherigen Generationen hinter sich und drehten freiere, gesellschaftskritischere Werke.

(Anti)Kriegsfilm

Obwohl das Genre auf ein spezifisches Thema festgelegt ist, bieten sich dem Betrachter eine Vielzahl Subtexte und Motive. Während Kriegsfilme sich vornehmlich auf Abenteuer, Kameradschaft und Heldenmut konzentrieren, eröffnen sich im Antikriegsfilm eine Vielzahl von Themen: Moral und Menschenrechte, der Horror und die Absurdität des täglichen Grauens oder die perverse Systematik dahinter.