Die Japanische Neue Welle

Ein Überblick über die radikale Kino-Bewegung gegen das Establishment

Einführung

In einem Japan, das sich mitten in einem gesellschaftlichen Umbruch befand, startete eine Horde junger Filmemacher eine neue Bewegung. Die Emporkömmlinge der Japanische Neue Welle (Nūberu bāgu) brachen mit altmodischen Themen und Traditionen, scheuten keine Tabubrüche und drehten in jeder Hinsicht radikale Werke.

Da die Filme der Japanische Neue Welle auch für die Studios profitabel waren, gaben sie ihren Regisseuren künstlerische Freiheiten. So bildete sich binnen weniger Jahre eine so innovative wie vielfältige Strömung, die das japanische Kino zu einer neuen Blüte führte und nachfolgende Filmemacher auf der ganzen Welt beeinflusste.

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Ein guter Einstiegsfilm

The Warped Ones

Koreyoshi Kurahara | 1960 | Japan

The Warped Ones markiert den Urknall der Japanischen Neuen Welle und ist zugleich ein Vorgänger der Pinku Eigas, die in dessen Nachhut folgen sollten. Der oft mit Außer Atem verglichene Film handelt von einem jungen Straftäter, der seiner Perspektivlosigkeit durch gewissenlosen Eskapismus zu entkommen versucht. Regisseur Koreyoshi Kurahara transportiert die Weltsicht seines Protagonisten in rauschhaften Bildern, einem atemlosen Schnitt und einem Jazz-Score, der beständig Öl ins Feuer gießt. Dabei sucht The Warped Ones wie seine Hauptfigur weder nach Sinn noch Erklärungen, sondern nach der größtmöglichen kinetischen Energie – Kurahara entfesselt ein radikales, kontroverses Filmerlebnis.

Top 10: Die besten Filme der Japanischen Neuen Welle

Filmszene aus Die Frau in den Dünen

Die Frau in den Dünen

Hiroshi Teshigahara | 1964 | Japan

Drei Genies auf dem Höhepunkt ihres Könnens prägten Die Frau in den Dünen: Der Autor Kōbō Abe, der Regisseur Hiroshi Teshigahara und der Komponist Tōru Takemitsu schufen einen Höhepunkt der Japanischen Neuen Welle. Teshigaharas Werk entzieht sich den Konventionen des Kinos und bietet ein einmaliges Filmerlebnis: Die parabelhafte Geschichte, die expressiven Bilder und die ungewöhnliche Musik entwickeln eine hypnotische Wirkung. Da sich Die Frau in den Dünen vielfältig interpretieren lässt und dabei in sich geschlossen bleibt, wohnt ihm eine zeitlose Faszination inne.

Filmszene aus Onibaba

Onibaba – Die Töterinnen

Kaneto Shindô | 1964 | Japan

Onibaba fängt das feudale Japan regelrecht apokalyptisch ein und schildert den täglichen Überlebenskampf zweier Frauen in einer Zeit des Krieges. Das Meisterwerk von Kaneto Shindô ist Horror- und Historienfilm, Melodram und Antikriegsparabel zugleich. Es vereint einen harschen Existenzialismus mit Bestandteilen des Genrekinos: Mordlustige Samurai, heimlicher Sex und wütende Dämonen sorgen für Spannung und eine große Ambivalenz. Die betörenden Schwarz-Weiß-Bilder erzeugen durch ihre Symbolhaftigkeit eine magische Stimmung.

Filmszene aus Red Angel

Red Angel

Yasuzō Masumura | 1966 | Japan

Der Antikriegsfilm Red Angel pendelt zwischen den Extremen: Nihilismus und Humanismus stehen hier gleichberechtigt nebeneinander und bilden eine absurde Mischung, die den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges widerspiegelt. Eine junge Krankenschwester und ein drogensüchtiger Arzt stehen im Zentrum der Geschichte, die über weite Strecken in einem Lazarett spielt, in dem sich regelmäßig amputierten Gliedmaßen stapeln. In Red Angel zerstört der Horror des Krieges die Protagonisten nicht nur körperlich, sondern auch geistig – sie verkommen zu leeren Hüllen, die versuchen, sich einen letzten Rest Menschlichkeit zu bewahren.

Filmszene aus Kuroneko

Kuroneko

Kaneto Shindô | 1968 | Japan

Der japanische Geisterfilm Kuroneko besticht durch eine grandiose Bildsprache und setzt seinen Handlungsort – einen nächtlichen Bambuswald, in dem zwei rachsüchtige Geisterfrauen durchreisenden Samurai auflauern – eindrucksvoll in Szene. Kaneto Shindô taucht einen Großteil der Bilder in Finsternis und erzeugt durch eine kunstvolle Ausleuchtung harte Kontraste, die den Schauplatz der Realität entheben. Der Regisseur verstärkt den magischen Eindruck noch durch eine Reihe inszenatorischer Tricks, die mit unserer Wahrnehmung spielen; so gewinnt Kuroneko eine dichte Atmosphäre und entwickelt einen immensen Sog.

Filmszene aus The Inheritance

The Inheritance

Masaki Kobayashi | 1962 | Japan

Auf dem Höhepunkt seines Könnens – zwischen seinen Meisterwerken Barfuß durch die Hölle und Harakiri – drehte Masaki Kobayashi den „kleinen“ Krimi The Inheritance, bei dem er einen Stilwechsel vollzog. Der Regisseur wich vom traditionellen Erzählkino ab und bediente sich stattdessen beim Film Noir und der Japanischen Neuen Welle. Eine finstere Bildgestaltung, ungewöhnliche Schnitte und eine komplexe Rückblendenstruktur verleihen dem Krimi eine artifizielle Note und den Habitus eines Kunstfilms. Neben der stilvollen Inszenierung überzeugt auch der gesellschaftskritische Subtext, der an den vielen wunderbar bösartigen Figuren kein gutes Haar lässt.

Filmszene aus Intentions of Murder

Intentions of Murder

Shôhei Imamura | 1964 | Japan

Die Filmografie von Shôhei Imamura umfasst viele schwierige und kontroverse Werke, doch Intentions of Murder sticht trotzdem heraus: Die Leidensgeschichte einer vergewaltigten Frau, die eine Beziehung zu ihrem Peiniger aufbaut und sich darüber emanzipiert, erweist sich als herausfordernde Filmerfahrung. Imamura pfeift auf Moralfragen und erforscht komplexe Gefühlswelten abseits gängiger Konzepte von Liebe und Hass. Der Regisseur verstärkt den nihilistischen Eindruck seiner Tour de Force durch einen messerscharfen Schnitt und ungewöhnliche Perspektiven; umso mehr überrascht es, dass Imamura zwischen finsteren Winterbildern und menschlichen Abgründen einen unerwarteten Humanismus zutage fördert.

Filmszene aus Gate of Flesh

Gate of Flesh

Seijun Suzuki | 1964 | Japan

Die Filmografie von Seijun Suzuki hat mehr zu bieten als die stilisierten Gangsterfilme, für die der Regisseur vornehmlich bekannt ist. Mit Gate of Flesh drehte er eine poppige Prostituiertenballade, die sich ganz dem Pulp-Kino hingibt und bewusst artifiziell gehalten ist. Die knallbunte Garderobe der Protagonistinnen, die ausgestellte Künstlichkeit der Studiokulissen und die inszenatorischen Verfremdungseffekte verleihen Gate of Flesh einen eigenwilligen Charme. Das B-Movie spielt zwar genüsslich mit reißerischen Einlagen, offenbart jedoch im weiteren Verlauf eine gar nicht mal so oberflächliche Parabel auf das in der Krise befindliche Nachkriegsjapan.

Filmszene aus Der schwarze Testwagen

Der schwarze Testwagen

Yasuzō Masumura | 1962 | Japan

Vordergründig handelt Yasuzô Masumuras B-Movie Der schwarze Testwagen vom Kampf zweier Autohersteller, die auch vor Spionage und kriminellen Machenschaften nicht zurückschrecken. Der harsche Tonfall und die durchweg amoralisch handelnden Protagonisten erinnern an den Film Noir, allerdings interpretiert Masumura die Volten des Plots mit galligem Humor. Hinter dem hohen Unterhaltungswert verbirgt sich eine pessimistische Betrachtung des japanischen Wirtschaftswunders: Die Menschen haben den Nationalismus gegen den Kapitalismus eingetauscht, sind aber nach wie vor bereit, ihre Seele für leere Versprechen zu verkaufen.

Filmszene aus A Legend or Was It?

A Legend Or Was It?

Keisuke Kinoshita | 1963 | Japan

In A Legend or Was It? bricht Keisuke Kinoshita mit seinem sonst so feinfühligen Stil und greift auf kolportagehafte Mittel zurück, um eine gallenbittere Parabel zu etablieren. Der Film ist der Endphase des Zweiten Weltkrieges angesiedelt und beschreibt, wie die Frustration eines Dorfes in Gewalt gegen Flüchtlinge umschlägt. Kinoshita führt den anfangs noch unterschwelligen Konflikt unerbittlich zur Eskalation, die archaische Stimmung erinnert am ehesten an einen Western; die ungewöhnliche musikalische Untermalung und malerische Landschaften unterstreichen diesen Eindruck. A Legend or Was It? erhält dadurch eine polemische Ausrichtung, ohne an Spannung einzubüßen.

Filmszene aus Crazed Fruit

Crazed Fruit

Kô Nakahira | 1956 | Japan

Crazed Fruit zählt zu den Vorläufern der Japanischen Neuen Welle und ist ein Vertreter der Sun Tribe-Filme, die sich auf jugendliche Protagonisten fokussierten und das Lebensgefühl der japanischen Halbstarken auf die Leinwand brachten. Kô Nakahira zeigt den rastlosen Alltag zweier Brüder im Hochsommer mit einer modernen Inszenierung, die von einer agilen Kamera und einem bemerkenswerten Schnitt geprägt wird. Im Zusammenspiel mit der Musik des legendären Tōru Takemitsu entsteht ein Film, der keine Distanz zulässt und uns vereinnahmt – eine Perspektive, die die Sittenwächter erzürnte.

Die wichtigsten Filme der Japanischen Neue Welle

1956 – Crazed Fruit (Kô Nakahira)
1958 – Giganten und Spielzeuge (Yasuzō Masumura)
1960 – Intimidation (Koreyoshi Kurahara)
1960 – Nackte Jugend (Nagisa Ôshima)
1960 – The Warped Ones (Koreyoshi Kurahara)
1962 – The Inheritance (Masaki Kobayashi)
1962 – Der schwarze Testwagen (Yasuzō Masumura)
1963 – A Legend Or Was It? (Keisuke Kinoshita)
1963 – Jagd auf die Bestie (Seijun Suzuki)
1964 – Die Frau in den Dünen (Hiroshi Teshigahara)
1964 – Onibaba – Die Töterinnen (Kaneto Shindô)
1964 – Gate of Flesh (Seijun Suzuki)
1964 – Intentions of Murder (Shôhei Imamura)
1964 – Pale Flower (Masahiro Shinoda)

1966 – Red Angel (Yasuzō Masumura)
1966 – The Face of Another (Hiroshi Teshigahara)
1966 – Tokyo Drifter (Seijun Suzuki)
1967 – The Affair (Yoshishige Yoshida)
1967 – Branded to Kill (Seijun Suzuki)
1967 – A Man Vanishes (Shôhei Imamura)
1968 – Kuroneko (Kaneto Shindô)
1968 – Tod durch Erhängen (Nagisa Ôshima)
1969 – Pfahl in meinem Fleisch (Toshio Matsumoto)
1969 – Eros + Massacre (Yoshishige Yoshida)
1970 – This Transient Life (Akio Jissoji)
1970 – Heroic Purgatory (Yoshishige Yoshida)
1971 – Throw Away Your Books, Rally in the Streets (Shûji Terayama)

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