O-Töne:

Geheimtipps des 21. Jahrhunderts

Das Thema

Die Suche nach dem nächsten guten Film ist nie abgeschlossen – die Masse der Neuveröffentlichungen übertrifft unsere Kapazitäten. Darunter leiden besonders Filme, die sich ihren Platz in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht mit großen Werbebudgets erkaufen können. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit auf verborgene Perlen zu stoßen, ist daher ein besonders schönes Gefühl. Deshalb lautete die Frage für diese Ausgabe:

Welcher Geheimtipp aus dem 21. Jahrhundert muss unbedingt entdeckt werden?

Foto von Thomas Laufersweiler

Thomas Laufersweiler

Host von SchönerDenken, Soylent Screen und Keisuke-Kinoshita.de, Heimat des Filmpodcastverzeichnisses und von Japanuary

empfiehlt

Martha Marcy May Marlene

Sean Durkin | 2011 | USA

Marthas Realität und Selbstwahrnehmung sind brüchig – sie ist aus einer Kommune geflohen, die ebenso von Gemeinschaft und Geborgenheit geprägt ist wie von unerbittlichen Machtstrukturen. Eine Vergewaltigung als Initation zeigt die patriachale Grausamkeit unter der Hippie-Oberfläche. Der Film ist dicht und schafft eine bedrohliche Atmosphäre, das Wechseln der Perspektiven spiegelt die Verwirrung der Protagonistin – es ist eine leise, psychologische Annäherung an eine junge Frau, die vielleicht nicht mehr in ein eigenes Leben finden kann. Die Hauptdarsteller Elizabeth Olsen und John Hawkes spielen großartig in diesem Psychodrama, das Elemente des Kriminalfilms aufgreift und schließlich in einen überraschenden und beeindruckenden Schluss mündet.

Filmszene aus Martha Marcy May Marlene
Foto von Sebastian Seidler

Sebastian Seidler

Freier Autor (u.a. bei Zeit Online, NZZ am Sonntag, Filmdienst, Berliner Zeitung, Kino-Zeit) und Podcaster (Projektionen Podcasts)

empfiehlt

Adoration

Fabrice Du Welz | 2019 | Belgien, Frankreich

Der belgische Regisseur Fabrice Du Welz gehört hierzulande eher zu den unbekannten Filmemachern. Seine Werke sind herausfordernd, poetisch und mitunter gnadenlos brutal. Sein verstörender Horrorfilm Calvaire gehört immer noch zu den faszinierendsten Filmen der New-French-Extremity-Welle. 2019 hat der Filmemacher mit Adoration ein dunkles Märchen über eine kindliche Liebe gedreht und wahrlich eine aufwühlende Metapher über Amour Fou geschaffen. Ein 13-jähriger Junge hilft einem Mädchen zur Flucht aus der Psychiatrie. Beide verlieren sich auf dieser Reise mehr und mehr im Wahnsinn. Poetisch, roh und fesselnd.

Filmszene aus Adoration
Foto von Philippe Paturel

Philippe Paturel

Chefredakteur bei CinemaForever.net

empfiehlt

Pacifiction

Albert Serra | 2022 | Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien

Albert Serras fiebriges politisches Delirium läuft außerhalb von Frankreich leider immer noch viel zu sehr unter dem Radar. Pacifiction spielt im heutigen Französisch-Polynesien, irgendwo zwischen der schweißtreibenden, lähmenden Atmosphäre aus Apocalypse Now und der verhängnisvollen Undurchsichtigkeit aus Casablanca. Benoît Magimel hätte sämtliche Preise als bester Schauspieler verdient. Pacifiction ist ein Mammutprojekt über Kolonialismus: Auf spektakuläre Weise verschwimmen hier klassische Elemente eines mitreißenden Film noir mit poetischen Mysterien sowie den diplomatischen Herausforderungen unserer heutigen Welt. Einen derart hypnotisierenden und nur schwer definierbaren Trip über komplexe (geo-)politische Gefüge habe ich noch nicht gesehen. Das eindrucksvollste politische Drama seit Jahrzehnten!

Filmszene aus Pacifiction
Foto von Tom Schünemann

Tom Schünemann

Der Gastgeber – Autor von Filmsucht.org

empfiehlt

Als das Meer verschwand

Brad McGann | 2004 | Neuseeland

Dem jung verstorbenen Regisseur und Drehbuchautor Brad McGann ist mit seinem ersten und zugleich letzten Film ein Meisterwerk gelungen. Die neuseeländische Romanverfilmung Als das Meer verschwand besitzt eine enorme erzählerische Dichte und umfasst genügend Material, um drei bis vier Filme zu füllen. Das Drehbuch vereint diverse Genres (Coming of Age- und Kriminalfilm, Drama, Thriller) und mehrere Zeitebenen zu einem in sich geschlossenen Konstrukt, das Schicht um Schicht abgetragen wird und dabei stetig neue Facetten enthüllt. Die inszenatorische Zurückhaltung, die Schönheit der neuseeländischen Landschaft und die starken Darsteller halten den Film trotz der vielen Motive nahbar und ungekünstelt.

Filmszene aus Als das Meer verschwand

Die neueste Filmkritik:

Der neueste Blogartikel: