Die Strömungen der Filmgeschichte

Die Kinogeschichte ist ständig in Bewegung. Wie jede Kunstform unterliegt auch der Film der gesellschaftlichen Entwicklung, einer ständigen Selbstreflexion, dem technischen Fortschritt und zahllosen weiteren Einflüssen, die jedem Film eine einzigartige DNA einprägen.

Doch manchmal entsteht im Spannungsfeld der Einflüsse eine übergeordnete Idee, wie das Kino sein sollte. Unter ihrer Schirmherrschaft versammeln sich dann – bewusst oder unbewusst – mehrere Werke und entwickeln das Medium Film in eine neue Richtung. Diese Strömungen inspirieren nachfolgende Filmemacher und gehen oft in der allgemeinen Sprache des Kinos auf.

Diese Seite ermöglicht einen Überblick zu den Strömungen der Kinogeschichte – zunächst mit den wichtigsten, es folgen in chronologischer Reihenfolge weitere Strömungen.

Poetischer Realismus

1930 – 1945

Beim Poetischen Realismus gehen Magie und Melancholie Hand in Hand. Geprägt durch die französische Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre, porträtiert die Strömung Menschen aus einfachen Verhältnissen und richtet sein Augenmerk auf ihre Milieus. Oft kämpfen die Protagonisten des Poetischen Realismus um ihr persönliches Glück und scheitern dabei an den Umständen oder dem Schicksal.

Film Noir

1940 – 1958

Rund zwanzig Jahre lang bereicherte Hollywood die Kinos mit düster gestalteten Kriminalfilmen. Deren heruntergekommene Detektive und abgebrühte Femme fatales gingen ebenso in die Popkultur ein wie ihr pessimistischer Tonfall. Damit zählt die Schwarze Serie auch abseits seiner zahllosen Klassiker zu den einflussreichsten Strömungen der Filmgeschichte.

Italienischer Neorealismus

1943 – 1952

Noch während des Zweiten Weltkrieges schwang sich der Italienische Neorealismus zu einer bedeutenden Filmströmung auf, die sich nach dem Ende des Krieges voll entfaltete. Die Werke dieser Ära schildern die kläglichen Lebensumstände der unteren Bevölkerungsschichten und nutzen dabei eine semidokumentarische Inszenierung, die den Filmen zugunsten der Wahrhaftigkeit alles Künstliche austreiben sollte.

Nouvelle Vague

1958 – 1969

Die Nouvelle Vague wischte die altmodischen “Filme der Väter” beiseite und entwickelte das moderne Kino. Erstmals beschäftigten sich Filme selbstreferenziell mit sich selbst, anstatt lediglich Geschichten mit Bildern zu erzählen. Mit der Generalüberholung von Inszenierung, Schnitt und Erzählweise legte die Nouvelle Vague die Grundlagen unserer heutigen postmodernen Filme, Musikvideos und Werbespots.

Japanische Neue Welle

1960 – 1974

Die Japanische Neue Welle (Nūberu bāgu) entstand innerhalb des Studiosystems und wurde von diesem gestützt, weil die frischen Ansätze dieser Filme neue Zielgruppen erschlossen. Die Vertreter der Japanischen Neuen Welle brachen mit altmodischen Themen und der traditionellen Inszenierung. Sie spiegelten die gesellschaftlichen Umwälzungen der Nachkriegsära, scheuten keine Tabubrüche und setzten auf eine radikale Inszenierung.

New Hollywood

1967 – 1980

Mitte der Sechziger Jahre gelangte das traditionelle Hollywood-Kino an einen kreativen Nullpunkt, der eine neue Strömung ermöglichte. Das New Hollywood legte die kreative Kontrolle der Produzenten in die Hände junger Regisseure, die so unkonventionelle Filme drehen konnten. Gesellschaftskritische Werke mit Außenseitern als Protagonisten sorgten für die Wiederbelebung des amerikanischen Kinos.

Weitere Strömungen, chronologisch sortiert:

Französischer Impressionismus

1918 – 1929

Der Französische Impressionismus definiert sich nicht als feste Strömung, sondern eher als lose „Glaubensgemeinschaft“ einiger französischer Filmemacher, die an einem ausdrucksstärkeren Kino arbeiteten und sich intensiv mit der Sprache und den Mitteln des Mediums Film auseinandersetzten. Die Werke des Französischen Impressionismus legen besonderes Augenmaß auf eine effektvolle Ästhetik der Bildgestaltung.

Deutscher Expressionismus

1919 – 1931

Der Deutsche Expressionismus übersetzte das konfliktgeladene Klima der Weimarer Republik in eine filmische Form: Das in Aufruhr befindliche Innenleben der Protagonisten spiegelt sich in übersteigerten Bilderwelten, die Realität wird durch Neurosen, Albträume und Wahnsinn verzerrt. Die Strömung brachte einflussreiche Regisseure und bedeutende Meisterwerke hervor, sie etablierte Deutschland als Weltmarktführer und wirkt – bspw. im Horror-Genre – bis heute nach.

Polnische Filmschule

1956 – 1963

Die Polnische Filmschule entstand in der „Tauwetterperiode“ des kommunistischen Polens in den Fünfziger Jahren. Sie geht auf die Staatliche Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź zurück und brachte viele der größten Filmklassiker der polnischen Kinogeschichte hervor. Die Vertreter der Strömung zeichnen sich durch eine moderne Inszenierung und starke Bezügen zu den gesellschaftlichen Umwälzungen der jüngeren polnischen Geschichte aus.

British New Wave

1958 – 1966

Die British New Wave gab den einfachen Leuten eine Stimme: Die Filmemacher der Strömung drehten zu Beginn der Sechziger Jahre eine Reihe von Sozialdramen, die den Alltag der englischen Arbeiterklasse porträtierten. Aufgrund ihrer Wurzeln im Dokumentarfilm verzichtet die British New Wave auf Pathos, hält die Inszenierung lebensnah und zeichnet sich durch eine große Wahrhaftigkeit aus.

Tschechoslowakische Neue Welle

1963 – 1970

Als das sozialistische Regime in den Sechziger Jahren die Zügel lockerte, bildete die Tschechoslowakei ein Kreativzentrum des Kinos. Ambitionierte Filmemacher nutzten die neue Kunstfreiheit und drehten bemerkenswerte Werke mit oft heiterem Tonfall, in dem sich Spitzen gegen die Politik und die Gesellschaft verbargen. Die Niederschlagung des Prager Frühlings beendete die blühende Strömung viel zu früh, doch ihre experimentierfreudigen Filme bleiben.

Pinku eiga

1964 – 1979

Pinku eiga benennt eine Strömung japanischer Exploitationfilme, die 20 Jahre lang einen beträchtlichen Marktanteil beanspruchte. Oft mit minimalem Budget gedreht und nur 60 Minuten lang, kommen Pinku eiga („pinke Filme“) mit einem rudimentären Szenario aus und konzentrieren sich auf die Darstellung von Sex und Gewalt. Der Reiz der moralisch fragwürdigen Werke liegt in der exzessiven Inszenierung, die mit Stilregeln bricht und so unvorhersehbar bleibt.

Giallo

1964 – 1987

Der Begriff Giallo bezeichnet italienische Genrefilme, die zwischen Krimi, Thriller und Horrorfilm changieren und in den Sechzigern und Siebzigern populär waren. Durch wiederkehrende Motive – am bekanntesten ist ein nie vollständig sichtbarer Mörder mit schwarzen Lederhandschuhen und Rasiermesser – formte sich ein eigener kleiner Kosmos, der sich von herkömmlichen Genrefilmen unterscheidet.

Neuer Deutscher Film

1966 – 1982

Der Neue Deutsche Film grenzte sich vom populären Unterhaltungskino ab. Die Regisseure der Strömung arbeiteten unabhängig von den Studios und drehten als Autorenfilmer Werke mit vornehmlich gesellschaftlichen und politischen Bezügen. Neben der inhaltlichen Neuorientierung suchte der Neue Deutsche Film auch nach anderen Ausdrucksformen und setzte dem konventionellen Kino sowohl poetischere als auch radikalere Bilder entgegen.

Drittes Kino

1969 – 1980

Unter dem Oberbegriff des Dritten Kinos versammeln sich diverse Bewegungen in ehemaligen Kolonialstaaten, die mit dem Medium Film an einer politischen und gesellschaftlichen Neuausrichtung arbeiteten. In lateinamerikanischen Ländern und auf Kuba entstanden Werke, die sich an eine breite Bevölkerung richteten und diese zur politischen Aktion aufriefen. Die Werke des Dritten Kinos sind daher keine reinen Unterhaltungsfilme, sondern ideologische Arbeiten, die die postkoloniale Weiterentwicklung einfordern.

Cinéma du look

1981 – 1991

Das in den Achtziger Jahren aufgekommene Cinéma du look suchte stets nach den effektvollsten Ausdrucksmöglichkeiten: Es galt, lebensnahe Geschichten und jede Form von Realismus beiseite zu wischen und die Magie hinter unserem Alltagsleben zu beschwören. So feiern die Vertreter der Strömung das Unwahrscheinliche und Irreale: Sie porträtieren seltsame, unangepasste Protagonisten und überlebensgroße Gefühlswelten.

Neues Taiwanisches Kino

1982 – 2010

Mit dem Anbruch einer liberalen Politik zu Beginn der Achtziger Jahre konnte sich in Taiwan ein neues Kino entfalten. Junge, von der Historie des Landes unbelastete Filmschaffende drehten politische und gesellschaftskritische Filme, in denen sie eine Bestandsaufnahme des modernen Taiwans und seiner nationalen Identität vornahmen. Die Filme der Strömung sind komplex, aber subtil – sie fußen auf einer erzählerischen Reduktion und heimsen regelmäßig Preise der wichtigen Filmfestivals ein.

Berliner Schule

1998 – 2012

Die Berliner Schule ist keine historisch gewachsene Strömung, sondern dient als Label für die Arbeiten einer losen, voneinander unabhängigen Gruppe deutscher Regisseure, die an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ausgebildet wurden. Den Werken der Berliner Schule ist gemein, dass sie ihre Geschichten inmitten alltäglicher Szenarien platzieren und mit einer eher distanzierten Inszenierung konventionelle Erzählmuster unterlaufen.

Es gibt noch viele weitere Strömungen, die einen Blick wert, aber noch nicht auf Filmsucht.org vertreten sind.

Darunter fallen etwa das aufwühlende Cinema Novo aus Brasilien, die neuen Wellen aus Hongkong und dem Iran, das Neue Rumänische Kino oder die kurzlebige Dogma 95-Bewegung; sie werden gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt.