Der Poetische Realismus
Ein Überblick über die melancholisch-magische Ära des französischen Kinos
Einführung
Der Poetische Realismus entstand zu Beginn der Dreißiger Jahre in Frankreich und brachte einige der namhaftesten Filme und Regisseure der Kinogeschichte hervor.
Die Werke der Strömung spielen im Milieu der „kleinen Leute“ und beobachten gesellschaftliche Außenseiter, die ihr persönliches Glück finden wollen und daran meist vom Schicksal oder der Gesellschaft gehindert werden.
„Poetischer Realismus“ klingt widersprüchlich, doch diese Bezeichnung bringt den zentralen Kontrast der Strömung auf den Punkt: Indem die Filme ihre bodenständigen Szenarien übersteigern, paaren sich Melancholie und Magie. Daraus gewinnen die Vertreter des Poetischen Realismus eine besondere Stimmung.
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Worum geht es beim Poetischen Realismus?
Einfache Leute und ihre Milieus
Die Betrachtung der einfachen Leute und ihrer Milieus bildet das Fundament des Poetischen Realismus. Da Frankreich sich in einer Wirtschaftskrise befand, durchleben die Arbeiter und Handwerker, Soldaten, Bühnenschauspieler und Diebe der Filme eine harte Zeit. Oft herrschen Verdruss und Resignation, denn sie leben in kümmerlichem Leerlauf und kommen nicht voran.
Das Streben nach Glück
Die Betrachtung der harten Umstände eröffnet den Raum für Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, bildet jedoch gleichermaßen den Nährboden für die Geschichten der Strömung.
Inmitten der Tristesse keimt die Sehnsucht auf bessere Zeiten. Hoffnung – das kann ein Lotterielos sein wie in Die Million, oder die grenzenlose Freiheit, nach der die Protagonisten in Pépé le Moko und Die große Illusion streben.
Wie so oft entpuppt sich die Liebe als stärkste Kraft. Sie trägt Licht in das düstere Leben der Charaktere und zeigt ihnen eine unerwartete neue Richtung auf.
Realismus
Mit übermenschlichen Sehnsüchten konfrontiert, lösen sich die Figuren des Poetischen Realismus aus ihrer Erstarrung und setzen alles in Bewegung, um ihre Träume zu verwirklichen. Der plötzliche Drang, das eigene Schicksal beim Schopf zu packen, besitzt jedoch auch eine Kehrseite, die in den Werken des Poetischen Realismus regelmäßig zum Tragen kommt.
Manche Protagonisten setzen auf Geduld und Tugend, andere suchen verzweifelt nach Abkürzungen und geraten auf die schiefe Bahn. Zu den charakteristischsten Merkmalen der Strömung zählt die Tatsache, dass das Glück des Einzelnen durch höhere Instanzen – das Schicksal, die Gesellschaft – verhindert wird.
Fatalismus
Am härtesten trifft es die Liebenden, die immer wieder scheitern. Manchmal an den Umständen wie in Hafen im Nebel, oft jedoch auch an eigenen Fehlern oder Charakterschwächen wie in Pépé le Moko und Der Orkan. Die Filme deuten die drohenden existenziellen Krisen früh an und spielen leuchtende Hoffnungen und düstere Vorahnungen gekonnt gegeneinander aus.
In Kinder des Olymp begehren gleich vier Männer dieselbe Frau – von Anfang ist klar, dass es hier drei Verlierer geben wird. Der Reiz der Werke des Poetischen Realismus besteht darin, wie die Figuren mit ihren Krisen umgehen, wie sie an ihnen wachsen und eine neue Selbsterkenntnis erlangen.
Die Poesie des Scheiterns
Doch trotz der Anhäufung tragischer Schicksale hinterlassen die Klassiker der Strömung eine nicht zu unterschätzende Wärme. Ihre Protagonisten mögen scheitern, doch statt an einem sinnlosen, eintönigen Leben zugrunde zu gehen, erleben sie zuvor noch einige flüchtige Augenblicke perfekten Glücks.
Oft verstehen die Figuren der Filme zum ersten Mal, wofür es sich zu leben lohnt – eine Erkenntnis, die ihnen keine Niederlage mehr nehmen kann. Und so liegt im Scheitern eine versöhnliche Magie.
Ein guter Einstiegsfilm
Bestie Mensch
Bestie Mensch

Die Adaption eines Romans von Emile Zola spielt im Milieu von Eisenbahnern und vereint zwei der größten Namen des Poetischen Realismus: Regisseur Jean Renoir und Hauptdarsteller Jean Gabin.
Bestie Mensch ist sowohl ein psychologisches Melodram als auch ein fatalistischer Kriminalfilm, nimmt dadurch bereits den Film Noir vorweg und beeindruckt durch eine hervorragende Figurenzeichnung, effektvolle Bilder und imponierende Darstellerleistungen.
Filmkritiken zu den besten Vertretern des Poetischen Realismus
Die Entwicklung des Poetischen Realismus
Die Wurzeln: Der französische Impressionismus
Im Stummfilmzeitalter entwickelte das französische Kino einen aus der Malerei abgeleiteten Impressionismus, der das Medium Film nicht als „anhand von Bildern erzählte Geschichten“ verstand, sondern als eigene Kunstform, die daher auch eine eigene Sprache benötigte.
Regisseure wie Marcel L’Herbier (Das Geld) und Jean Epstein (Der Untergang des Hauses Usher, Treues Herz), vor allem aber der im besten Sinne größenwahnsinnige Abel Gance (Napoleon, Das Rad, Ich klage an) arbeiteten eifrig daran, Kameraarbeit, Lichtsetzung und Erzählweisen weiterzuentwickeln.
Die Entstehung des Poetischen Realismus
Als Frankreich zu Beginn der Dreißiger Jahre in eine Wirtschaftskrise schlitterte, wandte sich eine lose Gruppe junger Regisseure von den Übersteigerungen des Impressionismus ab. Noch immer orientieren sich die Filmemacher an den großen Themen des Lebens – Liebe und Tod, Glück und Elend -, wollten diese jedoch deutlich bodenständiger präsentieren. Sie übertrugen ihre Sujets daher auf die greifbarere Wirklichkeit von einfachen Leuten und deren Lebensverhältnissen.
Frühphase
Die Frühphase des Poetischen Realismus wurde vor allem durch die Filme René Clairs geprägt. Der Regisseur drehte zu Beginn der Dreißiger Jahre Unter den Dächern von Paris, Die Million sowie Es lebe die Freiheit – drei Werke, die das Arbeitermilieu mit Studiokulissen und Gesangseinlagen romantisierten.
Auch die frühen Filme von Jean Renoir (Boudu) und dem leider jung verstorbenen Jean Vigo (Atalante) stellen das Leben der unteren Gesellschaftsschichten in einem positiven Licht dar – die malerische Magie der Strömung ist hier bereits vorhanden, die düsteren Bilder und der Fatalismus sollten jedoch erst 1935 hinzukommen.
Blüte
Mit dem Erscheinen von Jean Renoirs Toni setzte 1935 die Blüte des Poetischen Realismus ein. Der Regisseur verzichtete auf die Romantik der früheren Werke der Strömung und inszenierte realistischer und trostloser. In der Folge erschien eine ganze Reihe von Filmen, die das Düstere verdichteten und melancholische Außenseitergeschichten ohne Happy End erzählten.
Insbesondere die späten Arbeiten von Marcel Carné und Jean Renoir (Bestie Mensch, Hafen im Nebel, Der Tag bricht an, Die Spielregel), zählen zu den Höhepunkten der Strömung.
Ende
1940 erfuhr der Poetische Realismus ein abruptes Ende, als Nazideutschland in Frankreich einmarschierte. Zwar durften weiterhin Filme gedreht werden, doch das Regime erließ zahlreiche Einschränkungen. Unter anderem waren nur noch historische Stoffe erlaubt – ein Todesurteil für die Strömung, die sich ausschließlich mit dem zeitgenössischen Jetzt auseinandersetzte.
1945 erschien ein letzter Vertreter der Strömung. Trotz widrigster Umstände gelang Marcel Carné noch ein Meisterwerk: Kinder des Olymp beendete den Poetischen Realismus mit einem Paukenschlag.
Die großen Namen des Poetischen Realismus
Jean Renoir
Jean Renoir drehte mehr als ein halbes Dutzend Filme im Rahmen der Strömung und vertrat dabei einen überwiegend düsteren, schweren Tonfall.
Die Arbeiten des Regisseurs bestechen durch handwerkliche Brillanz: Die Kamerafahrten in Die Spielregel oder die apokalyptischen Bilder von Bestie Mensch bleiben lange im Gedächtnis.
Doch auch inhaltlich bieten seine Werke reichhaltige Bezüge. Egal ob er einen pazifistischer Antkriegsfilm oder eine bittere Satire drehte – stets reflektiert Renoir über das Menschsein und die Gesellschaftsformen, in denen wir uns bewegen.
Marcel Carné
Neben Jean Renoir schwang sich Marcel Carné zur zweiten Säule des Poetischen Realismus auf. Wo Renoirs Werke von ihrer Wucht und Düsternis leben, funktionieren Carnés Arbeiten über effektvolles Sentiment.
Auch dank der Drehbücher von Jacques Prévert weisen die Filme von Carné bis ins Höchstmaß verdichtete Szenen auf – Hafen im Nebel oder Kinder des Olymp bieten daher am laufenden Band magische Momente. Auch auf die Menschenführung verstand sich der Franzose: Unter seiner Regie lieferten die Schauspieler oft ihre besten Leistungen ab.
Jacques Prévert
Während die vorgenannten Regisseure als die künstlerischen Gestalter des Poetischen Realismus anzusehen sind, verkörpert Jacques Prévert dessen Seele.
Bevor Prévert zahlreiche Drehbücher schrieb, verfasste er Lyrik; das versetzte ihn in die Lage, dem französischen Kino eine literarische Qualität zuzuführen, die sich insbesondere in den Kollaborationen mit dem Regisseur Marcel Carné äußert.
Die bemerkenswertesten Beispiele für Préverts Qualitäten liefern Hafen im Nebel mit seiner Vielzahl besonderer Nebenfiguren sowie Kinder des Olymp, dessen Drehbuch förmlich in ausgedehnten Dialogreigen voller ironischer Spitzen und süffisanter Bonmots schwelgt.
Jean Gabin
Der Schauspieler Jean Gabin ist das Gesicht des Poetischen Realismus. Als Pépé le Moko in Julien Duviviers gleichnamigen Film gelang ihm der Durchbruch, es folgten vier Hauptrollen in den besten Klassikern der Strömung – zwei bei Jean Renoir (Die große Illusion, Bestie Mensch) und zwei bei Marcel Carné (Hafen im Nebel, Der Tag bricht an).
Gabin verstand es ausgezeichnet, die Grobheit der Arbeiterklasse zu verkörpern und darin gefühlvolle Anwandlungen zutage zu fördern, die zur Dramatik der Filme beitrugen.
Das Vermächtnis des Poetischen Realismus
Film Noir
Die Filme der Schwarzen Serie basieren auf den Grundfesten des Poetischen Realismus: Eine ausgeprägte Überhöhung von Bildern und Tonfall, gepaart mit einem starken Hang zum Fatalismus und dem Bewusstsein für spezifische Milieus.
Werke wie Bestie Mensch oder Der Tag bricht an nahmen den Film Noir vorweg, letzterer weist sogar die typische Rückblendenstruktur der amerikanischen Strömung auf.
Italienischer Neorealismus
Die Werke des Italienischen Neorealismus gehen bis auf Jean Renoirs Klassiker Toni zurück. Das ist kein Zufall, denn Luchino Visconti absolvierte bei dessen Dreharbeiten ein Praktikum. Auch Michelangelo Antonioni durfte bei Renoir und Marcel Carné lernen und brachte seine Kenntnisse später beim Neorealismus ein.
Die italienische Strömung entsagt zwar den Überhöhungen des Poetischen Realismus und setzte stattdessen auf dokumentarische Wahrheiten, doch die italienischen Regisseure entliehen sich den schonungslosen Blick auf die Arbeiterklasse und das Filmen an Originalschauplätzen.
British New Wave
Auch die British New Wave verzichtete auf die magischen Übersteigerungen des Poetischen Realismus, die britische Strömung verortete ihre Geschichten jedoch ebenfalls im Arbeitermilieu.
Wie die französische Strömung fußt auch die British New Wave auf einer Wirtschaftskrise – als es mit Großbritanniens Industrien bergab ging, entwarfen die dortigen Filmemacher authentische Porträts unzufriedener Menschen am unteren Ende der Gesellschaft.
Die wichtigsten Filme des Poetischen Realismus
Frühwerk
1930 – Unter den Dächern von Paris
1931 – Die Million
1931 – Die Hündin
1931 – Es lebe die Freiheit
1932 – Boudu
1934 – Atalante
Hauptwerk
1935 – Toni
1936 – Pépé le Moko
1936 – Das Verbrechen des Herrn Lange
1937 – Die große Illusion
1938 – Hôtel du Nord
1938 – Bestie Mensch
1938 – Hafen im Nebel
1939 – Der Tag bricht an
1939 – Die Spielregel
1945 – Kinder des Olymp