Kinder des Olymp

Ein Film von Marcel Carné

Genre: DramaLiebesfilm

 | Strömung: Poetischer Realismus

 | Erscheinungsjahr: 1945

 | Jahrzehnt: 1940 - 1949

 | Produktionsland: Frankreich

 

Wer Kinder des Olymp schaut, erlebt ein Wunder. Nicht nur, weil Marcel Carnés Film zu den größten Meisterwerken der Kinogeschichte zählt und mit seinem Erscheinen im Jahr 1945 den imposanten Schlusspunkt unter den Poetischen Realismus setzte, sondern vor allem, weil es unfassbar erscheint, dass ein solch phänomenaler Klassiker unter den denkbar katastrophalsten Bedingungen im von den Nazis besetzten Paris gedreht wurde.

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Filmkritik:

1940 beendete die deutsche Besatzung den Poetischen Realismus, der zuvor Werke wie Hafen im Nebel oder Bestie Mensch hervorgebracht hatte, beinahe. Nicht nur sank während der Kriegswirren verständlicherweise die Lust auf künstlerische Erbauung, das Kino unterlag auch der Kontrolle der Faschisten.

Als Marcel Carné 1943 mit den Dreharbeiten zu Kinder des Olymp begann, herrschten diverse Einschränkungen: Das Zeigen der Gegenwart wurde untersagt, sodass die für den Poetischen Realismus so typischen Milieubeschreibungen außen vor blieben. Keine Handlung durfte politische oder gesellschaftliche Themen beinhalten, sondern musste stets auf wenige Figuren zugeschnitten werden. Eine weitere Restriktion betraf die Länge eines Films: Diese durfte 90 Minuten nicht überschreiten, weshalb Carné offiziell zwei einzelne Filme unter falschen Namen drehte, um die angestrebte Laufzeit von 180 Minuten zu erreichen.

Zahllose abenteuerliche Anekdoten ranken sich um das aufwendige und subversive Projekt: Die Filmrollen mit den wichtigsten Szenen wurden vor den Nazis versteckt und ein Nebendarsteller als Kollaborateur überführt. Die berühmte weibliche Hauptdarstellerin Arletty sorgte durch eine Affäre mit einem deutschen Offizier für Aufsehen, was sie zu ihrer populären Rechtfertigung veranlasste: „Mein Herz schlägt französisch, aber mein Hintern ist international!“

Aller Hindernisse zum Trotz wirkt Kinder des Olymp vollkommen homogen, was zu großen Teilen dem Wirken des legendären Drehbuchautors Jacques Prévert zu verdanken ist. Während Meisterregisseure wie Jean Renoir oder René Clair als künstlerische Gestalter des Poetischen Realismus anzusehen sind, verkörpert Prévert dessen Seele. Er formte die Motive der Strömung mit unzähligen Drehbüchern, bereicherte insbesondere die Werke von Marcel Carné und ist untrennbar mit dem französischen Kino seiner Zeit verbunden.

Kinder des Olymp erweist sich als Paradestück Préverts und verknüpft gekonnt mehrere Handlungsstränge. Vordergründig schildert das Skript die Liebesgeschichte zwischen der schönen Garance und gleich drei Männern, die sie umwerben: Der schüchterne Pantomime Baptiste Deburau, der draufgängerische Schauspieler Frédérick Lemaître und der eiskalte Kriminelle Pierre-François Lacenaire. Geschickt verknüpft Prévert seine vier Protagonisten miteinander, lässt sie in verschiedensten Konstellationen zusammentreffen und erzählt gleichzeitig die Geschichte jedes Einzelnen.

Es ist spannend zu beobachten, wie sich die drei Männer auf jeweils andere Weise zu Garance hingezogen fühlen. Während der charmante Schönling Frédérick Lemaître stürmisch nach einer kurzfristigen Bestätigung seiner Egozentrik sucht, findet der junge Pantomime Baptiste in Garance ein anbetungswürdiges Ideal. Als faszinierend erweist sich auch die Hingabe des zynischen Mörders Lacenaire, dessen gefühlskalte Intellektualität ihm zwar einen klareren Blick auf sich selbst und andere erlaubt, jedoch auch keine Liebe zulässt.

Die Art der Leidenschaft definiert wesentlich den Charakter der drei Protagonisten und bietet dem Publikum eine breite Identifikationsfläche, zumal Garance nicht die einzige Leidenschaft der drei Verehrer darstellt. Prévert gestaltet die Männer im weiteren Verlauf des Films immer mehr aus und zeigt Arroganz und Ehrgeiz bei Lemaître, die Feinfühligkeit von Baptiste sowie die paradoxen Anwandlungen von Poesie und Mordlust, die Lacenaire unberechenbar machen.

Anhand dieser drei gegensätzlichen Beispiele führt Kinder des Olymp gleichzeitig eine Abhandlung über das Wesen und die Spielarten der Liebe. Im Gegensatz zu konventionellen Melodramen romantisiert Préverts Drehbuch die Liebe nicht oder zeigt sie gänzlich ungetrübt, sondern reflektiert sie über die unterschiedlichen Figuren. Erst im Kontext der eigenen Persönlichkeit, als Ergebnis der eigenen Leidenschaft, formiert sich aus dem Fantasieprodukt Liebe etwas Wesentliches, Reales. Dementsprechend findet sich in den romantischen Anwandlungen der Männer vor allem auch der Ausdruck der eigenen Selbstsucht, einer geistiger Verwandtschaft oder hehrer Ideale. Im Handeln von Garance zeigt sich eine vierte Dimension: das Chaos. Die Fähigkeit der Liebe, den Kopf zu benebeln, die Sinne zu betäuben und das Gefühl zu erzeugen, einem übergeordnetem Schicksal ausgeliefert zu sein.

Doch nicht nur Liebe, sondern auch alles andere wirkt illusorisch – Prévert wählte nicht umsonst zwei Schauspieler und einen Kriminellen, also drei sich stetig verstellende Akteure, um dem Film eine allegorische Note zu geben: Nicht zufällig kadriert ein Theatervorhang Beginn und Finale des Films, der die Welt zur Bühne macht und jedermann Rollen spielen lässt. Auf ein Genre lässt sich Kinder des Olymp nicht festlegen, wie die Realität kennt auch Carnés Werk keine klare Abgrenzung zwischen Komödie und Tragödie.

Wenn sich Garance dann aus der Not für einen vierten Verehrer entscheidet, offenbart dies einige Ironie, die allerdings auch bittere Noten bereithält – und einen cleveren Kniff von Drehbuchgenie Prévert, der den Film mit dem Verschwinden von Garance nach genau 90 Minuten teilt, was aufgrund der Produktionsgeschichte vieles vereinfachte. Zugleich bietet das Script eine neue Perspektive, wenn die zweite Filmhälfte einen Zeitsprung von einigen Jahren macht: Der Verlust von Garance verändert die drei Männer, jeder von ihnen kompensiert ihn anders.

Neben dem geschickten Handlungsaufbau und der souveränen Narration besitzt Préverts Drehbuch auch eine literarische Qualität. Die Dialoge erweisen sich als in höchstem Maße unterhaltsam und reihen sprachliche Bonmots, memorable verbale Scharmützel und tiefsinnige Parabeln aneinander. Auch das großartige Finale bezeugt Préverts Meisterschaft und führt sämtliche Ebenen des Films zusammen. Dabei liegen Triumph und Niederlage dicht beieinander, was dem Film eine shakespearesche Prägung verleiht und für eine Ambivalenz sorgt, die weit über das Ende hinaus reicht. Es obliegt dem Publikum, den Preis einzuschätzen, den die Charaktere für ihre Entscheidungen bezahlen müssen.

Doch nicht nur das Drehbuch, sondern auch dessen Umsetzung ist meisterhaft. In der vierten Zusammenarbeit zwischen Prévert und Carné setzte der Regisseur die Geschichte in durchdachten Bildkompositionen um, insbesondere der mise en scéne kommt eine große Bedeutung zu. Die räumliche Anordnung der Protagonisten unterstreicht stets Ihr Auftreten: Nicht zufällig befindet sich der verschlagene Lacenaire häufig an den Bildrändern oder in größerem Abstand zur Kamera, während der so egozentrische wie dynamische Lemaître durchgehend im Zentrum und Vordergrund agiert.

Die Darsteller bekommen zahlreiche Gelegenheiten, sich auszuzeichnen und ziehen alle Register ihres Könnens. Jean-Louis Barrault verkörpert den Baptiste Deburau mit viel Ausstrahlung und beeindruckt mit seinem hervorragenden Pantomimenspiel. Marcel Herrand liefert mit seiner subtil-ironischen Körpersprache und dem verschlagenen Lächeln einen hinreißenden Schurken ab, dem trotz allen Charmes stets etwas latent Bedrohliches anhaftet. Carnés Stammschauspielerin Arletty bewältigt als Garance den Spagat zwischen betörender Schönheit und untergründiger Traurigkeit perfekt und entwickelt dabei eine Aura, die auch heute noch betört.

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges zahlten sich die Mühen der wahnwitzigen Produktion aus. Bereits bei der Uraufführung am 9. März 1945 wurde der Film von den Filmkritikern geschätzt und von den Kinogängern bejubelt. Zwar konnte sich der Poetische Realismus nicht vom Einschnitt des Krieges erholen, doch wurde er durch Marcel Carnés Meisterwerk gebührend beendet.

Kinder des Olymp weist zwar nicht den typischen Realismus der Strömung auf, lässt sich jedoch zweifellos in die Reihe seiner geistigen Vorgänger einordnen und zählt zu den konsequentesten Vertretern, weil er die Kämpfe seiner Charaktere variiert und anreichert. Deutlich zeigt der Film seine Prägung durch die Entbehrungen der Kriegsjahre, lässt seine das Glück suchenden Protagonisten einige Erfolge feiern und mahnt doch nachdrücklich leichtfertigem Eskapismus: Tragödie und Komödie gehören untrennbar zusammen.

★★★★★★

Marcel Carné

Marcel Carné drehte einige der besten Werke des Poetischen Realismus und schrieb sich so binnen weniger Jahre in die Filmgeschichte ein. Der Regisseur verstand es hervorragend, Emotionen zu verdichten und magische Momente zu kreiern. Zusammen mit dem begnadeten Autor Jacques Prévert schuf Carné einige der berührendsten Filme der Ära vor dem Zweiten Weltkrieg.

Poetischer Realismus

Beim Poetischen Realismus gehen Magie und Melancholie Hand in Hand. Geprägt durch die französische Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre, porträtiert die Strömung Menschen aus einfachen Verhältnissen und richtet sein Augenmerk auf ihre Milieus. Oft kämpfen die Protagonisten des Poetischen Realismus um ihr persönliches Glück und scheitern dabei an den Umständen oder dem Schicksal.