Die Tschechoslowakische Neue Welle

Ein Überblick über die kreativste Strömung ihrer Zeit

Einführung

Die politische Liberalisierung des Jahres 1962 führte zur kreativsten Filmströmung der Ära: Eine neue Generation von Regisseuren nutzte die neue Kunstfreiheit, wischte den konformistischen Mief des sozialistischen Realismus beiseite und schuf die Neue Tschechoslowakische Welle.

Sie drehten Werke, die das Leben in der Tschechoslowakischen Republik kritisch kommentierten und ironisch überhöhten, die die Kreativität des Genrekinos und die Möglichkeiten des fantastischen Films feierten und spielerisch mit neuen filmischen Mitteln experimentierten. Leider endete die aufblühende Bewegung viel zu früh mit der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968.

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Ein guter Einstiegsfilm

Der Feuerwehrball

Milos Forman | 1967 | Tschechien

In diesem Höhepunkt der Tschechoslowakischen Neuen Welle bricht Milos Forman die misslichen Zustände des kommunistischen Landes auf die Feier einer Kleinstadtfeuerwehr herunter und traf damit derart ins Schwarze, dass das Regime den Film prompt aus dem Verkehr zog. Zwar begegnet Forman den nicht sehr hellen Kleinstädtern mit gutmütigem Spott, vor allem aber zielt er auf den alltäglichen Wahnsinn des Lebens in der Tschechoslowakei ab: Überall herrscht Mangel und nichts funktioniert, doch alle Probleme werden totgeschwiegen. Der Feuerwehrball ist keine Komödie, die Gag an Gag reiht – ihr Humor ist sardonischer Natur, das Lachen bleibt gequält.

Top 6: Die besten Filme der Tschechoslowakischen Neuen Welle

Filmszene aus Das Ohr

Das Ohr

Karel Kachyna | 1970 | Tschechien

Als ob 1984 auf Wer hat Angst vor Virginia Woolf? trifft: Der tschechische Klassiker Das Ohr beschreibt die Paranoia unter der sozialistischen Diktatur der Tschechoslowakei als kafkaeske Groteske. Mit galligem Humor und untergründiger Spannung schildert der Thriller eine Nacht im Leben eines Parteifunktionärs, der an seine baldige Verhaftung glaubt. Zunehmend verzweifelt vernichtet er Unterlagen und durchsucht sein Haus nach Abhörgeräten; als wäre das nicht schon schlimm genug, muss er auch noch einen Streit mit seiner alkoholisierten Ehefrau ausfechten. Die Mischung aus Spannungskino, Komödie und Tragödie geht perfekt auf.

Filmszene aus Valerie - Eine Woche voller Wunder

Valerie – Eine Woche voller Wunder

Jaromil Jireš | 1970 | Tschechien

Mit Valerie – Eine Woche voller Wunder drehte Jaromil Jireš einen bemerkenswerten Vertreter der Tschechoslowakische Neue Welle. Sein Film beschreibt die beginnende Adoleszenz eines Mädchens als surreales Märchen: Magische Ohrringe, eine böse Großmutter, ein Vampir und diverse obskure Gestalten drängen in Valeries Welt, Realität und Fantasie verschwimmen zu einem faszinierenden Zwischenreich – nicht von ungefähr, denn die Romanvorlage wurde von F. W. Murnaus Stummfilmklassiker Nosferatu beeinflusst. Jireš etabliert eine verwunschene Welt voller Symbole und Mythen, die sich uns nicht erklärt; gerade deshalb verzaubert Valerie auch heute noch.

Filmszene aus Wagen nach Wien

Wagen nach Wien

Karel Kachyna | 1966 | Tschechien

Der tschechische Antikriegsfilm Wagen nach Wien verdichtet den Zweiten Weltkrieg aufs größtmögliche Maß: Er schildert, wie zwei desertierte deutsche Soldaten eine tschechische Bäuerin dazu zwingen, sie per Pferdekarren in Richtung Heimat zu fahren. Da die beiden zuvor den Ehemann der Frau erschossen haben, hegt die Bäuerin Rachegedanken. So entwickelt sich die Reise durch den endlosen böhmischen Wald zum psychologischen Duell zwischen den beiden Parteien, das Road-Movie erhält daher paradoxerweise einen kammerspielartigen Einschlag. Die hübschen Schwarz-Weiß-Bilder tragen viel zur dichten Stimmung bei.

Filmszene aus Happy End (1967)

Happy End

Oldrich Lipský | 1967 | Tschechien

Happy End verdeutlicht die Verspieltheit der Tschechoslowakischen Neuen Welle: Der Film erzählt seine Geschichte rückwärts und kehrt dabei nicht nur wie Memento oder Irreversibel die Reihenfolge der Szenen um, sondern spult das Geschehen tatsächlich wie bei einem VHS-Tape zurück. Damit kreiert Oldrich Lipský gleich zwei Filme auf einmal: Auf der vordergründigen Ebene sorgt die verkehrte Reihenfolge für einiges an Slapstick, der Film nutzt jedoch ein Voice-over, um den Sinn noch weiter zu entstellen und im Mantel der Ironie einen subversiven Kommentar auf das Leben in der Tschechoslowakei zu artikulieren. Dadurch erhält der 71 Minute kurze Happy End eine unerwartete Doppelbödigkeit und bereitet anarchischen Spaß.

Filmszene aus Die Hexenjagd

Die Hexenjagd

Otakar Vávra | 1970 | Tschechien

Die Hexenjagd entstand im Rahmen der Tschechischen Neuen Welle und hat mit der verspielten Ironie anderer Vertreter der Strömung nichts am Hut. Der Film ist im Mittelalter angesiedelt und beschreibt, wie eine Gemeinde aufgrund einer Lappalie Besuch durch die Inquisition bekommt. Die Amtsträger dienen als Katalysator für ein Klima aus Habsucht und Missgunst. Zahllose Denunziationen sind die Folge und lösen eine Kettenreaktion aus, die den Folterapparat der Kirche unermüdlich füttert. Otakar Vávra drehte einerseits einen spannenden Historienfilm, in dem die wenigen Vernünftigen sich einer Übermacht der Verblendeten und Morallosen gegenübersehen, andererseits funktioniert Die Hexenjagd als politische Parabel gegen das sozialistische Regime, denkt er doch über zweifelhafte Ideologien und ihre Schauprozesse nach.

Filmszene aus Der Scherz

Der Scherz

Jaromil Jireš | 1969 | Tschechien

Jaromil Jireš gelang 1969 eine würdige Adaption von Milan Kunderas Debütroman Der Scherz und rechnet wie die Vorlage mit dem Totalitarismus der kommunistischen Politik ab. Dabei war die Filmadaption sogar noch aktueller als der Roman – wenige Monate zuvor beendete die Sowjetunion den Prager Frühling, folgerichtig landete Der Scherz für 20 Jahre im Giftschrank. Die moderne, durch diverse Abschweifungen fragmentierte Narration und die immer wieder aufblitzende Ironie kaschieren nicht den zugrunde liegenden Pessimismus der Geschichte, Jireš formuliert eine unverhohlene Anklage gegen das restriktive Staatssystem und endet ohne Hoffnungsschimmer.

Die wichtigsten Filme der Tschechoslowakischen Neuen Welle

1962 – Baron Münchhausen (Karel Zeman)
1962 – The Sun in a Net (Stefan Uher)
1962 – Die Teufelsfalle (František Vláčil)
1963 – Von etwas anderem (Vera Chytilová)
1963 – Ikarie XB 1 (Jindřich Polák)
1964 – Diamanten der Nacht (Jan Nemec)
1964 – Der schwarze Peter (Milos Forman)
1964 – Limonaden-Joe (Oldrich Lipský)
1965 – Die Liebe einer Blondine (Milos Forman)
1965 – Es lebe die Republik (Karel Kachyna)
1966 – Vom Fest und den Gästen (Jan Nemec)
1966 – Wer will Jessie umbringen? (Václav Vorlíček)
1966 – Tausendschönchen – kein Märchen (Vera Chytilová)
1966 – Intime Beleuchtung (Ivan Passer)
1966 – Perlen auf dem Meeresgrund (diverse)
1966 – Wagen nach Wien (Karel Kachyna)

1967 – Der Feuerwehrball (Milos Forman)
1967 – Marketa Lazarová (František Vláčil)
1967 – Happy End (Oldrich Lipský)
1967 – Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (Evald Schorm)
1968 – Das Tal der Bienen (František Vláčil)
1968 – Dragon’s Return (Eduard Grečner)
1969 – Der Scherz (Jaromil Jireš)
1969 – Der Leichenverbrenner (Juraj Herz)
1969 – Vögel, Waisen, Narren (Juraj Jakubisko)
1969 – Lerchen am Faden (Jiří Menzel)
1970 – Das Ohr (Karel Kachyna)
1970 – Valerie – Eine Woche voller Wunder (Jaromil Jireš)
1970 – Ein Fall für einen Henkerslehrling (Pavel Jurácek)
1970 – Die Hexenjagd (Otakar Vávra)
1972 – Morgiana (Juraj Herz)

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