Der Neue Deutsche Film

Ein Überblick über die Strömung, die das deutsche Kino neu erfand

Einführung

„Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ – mit dem Oberhausener Manifest startete 1962 eine neue Zeitrechnung für das Kino der Bundesrepublik Deutschland. Eine Gruppe ehrgeiziger Filmemacher sagte dem faden, ambitionslosen Unterhaltungskino der Ära den Kampf an und erfand das deutsche Kino neu.

Die Regisseure des Neues Deutschen Film arbeiteten vornehmlich als Autorenfilmer und abseits der Studios; sie drehten Werke mit gesellschaftlichen und politischen Bezügen. Neben der inhaltlichen Neuorientierung suchte der Neue Deutsche Film auch nach anderen Ausdrucksformen und setzte dem konventionellen Kino sowohl poetischere als auch radikalere Bilder entgegen.

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Ein guter Einstiegsfilm

Lola

Rainer Werner Fassbinder | 1981 | Deutschland

Der zweite Teil in Fassbinders BRD-Trilogie verlegt Heinrich Manns Roman Professor Unrat in die Wirtschaftswunderjahre und erzählt vom Niedergang eines biederen Amtsleiters, der sich im Netz einer korrupten Kleinstadt verfängt. Fassbinder übersetzt den Verlust der emotionalen und moralischen Bodenhaftung mittels einer expressiven, vielfarbigen Beleuchtung und verleiht dem Geschehen so eine irreale Schicksalhaftigkeit. Dank der erstklassigen Besetzung (Armin Mueller-Stahl, Mario Adorf und Barbara Sukowa) bleiben die Figuren trotzdem greifbar, sodass Lola nie zur kalten Versuchsanordnung verkommt.

Top 10: Die besten Werke des Neuen Deutschen Films

Filmszene aus Welt am Draht

Welt am Draht

Rainer Werner Fassbinder | 1973 | Deutschland

Mit seinem bahnbrechenden TV-Epos Welt am Draht nahm Rainer Werner Fassbinder Matrix und Inception um Jahrzehnte vorweg. Der Autorenfilmer übernahm die (Computer-)Welt von Daniel F. Galouyes Roman Simulacron-3, nutzt das Science-Fiction-Szenario aber als Variationsraum seiner typischen Milieus. Fassbinder sprengt die Grenzen des Genrefilms für eine zutiefst pessimistische Bestandsaufnahme der modernen Gesellschaft: Die Computermenschen des Films unterscheiden sich mit ihrem kalten Auftreten, Kommunikationsdefiziten und ausbeuterischen Motiven nicht von anderen Werken des Regisseurs. Dabei profitiert seine Vision von starken Darstellern und einem bemerkenswerten Produktionsdesign.

Filmszene aus Katzelmacher

Katzelmacher

Rainer Werner Fassbinder | 1969 | Deutschland

Für sein zweites Werk Katzelmacher adaptierte Rainer Werner Fassbinder ein Stück aus seinem Antitheater zu einem radikal reduzierten Film, der anhand einer Gruppe von Spießbürgern mit Biederkeit und Doppelmoral abrechnet. Der Regisseur zeichnet eine Welt dysfunktionaler Kommunikation und individueller Unzufriedenheit, in der die Protagonisten ihre Defizite ausgleichen, indem sie sie auf andere projizieren. Fassbinder kennzeichnet diese Bigotterie als Nährboden für einen längst überwunden geglaubten Faschismus und lässt durch die strenge formale Gestaltung keinen Ausweg zu.

Filmszene aus Aguirre, der Zorn Gottes

Aguirre, der Zorn Gottes

Werner Herzog | 1972 | Deutschland

Aguirre, der Zorn Gottes markiert die erste Zusammenarbeit von Werner Herzog und Klaus Kinski und entwickelte sich zu einem großen internationalen Erfolg für den Neuen Deutschen Film. Herzog transzendiert den Mythos des Abenteuerfilms zu einem kontemplativen Fiebertraum und stürzte sich dafür in einen produktionstechnischen Gewaltakt, der sich unmittelbar im Endergebnis widerspiegelt und eine rohe Poesie ermöglicht. Getragen von den elegischen Bildern, einer eigentümlichen Musik und der Präsenz Klaus Kinskis, entwickelt Aguirre, der Zorn Gottes einen magischen Sog.

Filmszene aus Angst vor der Angst

Angst vor der Angst

Rainer Werner Fassbinder | 1975 | Deutschland

In Angst vor der Angst brandmarkt Rainer Werner Fassbinder einmal mehr die bleierne Ausweglosigkeit des bürgerlichen Lebens. Vielleicht nimmt der Film in der Wahrnehmung seines Schaffens eine untergeordnete Rolle ein, weil Fassbinder diesmal wenig am Soziotop der Protagonistin interessiert ist. Es handelt sich beinahe um einen Horrorfilm: Ähnlich wie in Martha treibt er seine Protagonistin von einer Krise in die nächste. Durch die Form des Kammerspiels mutet das noch konsequenter an, der Film bleibt ganz bei seiner Hauptfigur, die von Margit Carstensen umwerfend gespielt wird.

Filmszene aus Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Margarethe von Trotta, Volker Schlöndorff | 1975 | Deutschland

Die Adaption des Romans von Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll klagt mit kolportagehafter Polemik den Boulevardjournalismus an. Heute mutet Die verlorene Ehre der Katharina Blum aktueller den je an – nicht nur in seiner Zeichnung medialer Hysterie, auch durch seine emanzipierte Protagonistin, an der sich die vielen Alphamännchen des Films abarbeiten. Margarethe von Trotta und Volker Schlöndorff behalten den distanzierten Blick der Vorlage ebenso bei wie die nahe an der Karikatur befindliche Figurenzeichnung – ihr scharfsinniger Blick und die gut aufgelegten Schauspieler sorgen für einen Höhepunkt des Neuen Deutschen Films.

Filmszene aus Faustrecht der Freiheit

Faustrecht der Freiheit

Rainer Werner Fassbinder | 1975 | Deutschland

Faustrecht der Freiheit zählt zu den finstersten Arbeiten von Rainer Werner Fassbinder, der hier einen Proletarier via Lottogewinn in gehobene bürgerliche Kreise schubst und an diesem neuen Umfeld zerschellen lässt. Einmal mehr verdrahtet der Regisseur die ausbeuterischen Kräfte der Liebe und des Geldes und inszeniert einen Abgesang auf die menschlich-moralische Reinheit. Dabei besticht der Film durch seine melodramatisch konzentrierten Gefühle, die spürbar sind, ohne sichtbar zu werden. Das ist auch ein Verdienst der exzellenten Darsteller, angeführt von Fassbinder selbst in der Hauptrolle.

Filmszene aus Jagdszenen aus Niederbayern

Jagdszenen aus Niederbayern

Peter Fleischmann | 1969 | Deutschland

Peter Fleischmann bewies schon in seinem kontroversen Debütfilm ein Gespür für gesellschaftliche Themen: Jagdszenen aus Niederbayern demaskiert die vermeintliche Idylle einer bayerischen Dorfgemeinschaft. Unter dem Deckmantel der Tugendhaftigkeit kultivieren die Kleinbürger eines Ortes Ressentiments gegen jeden, der den erzkonservativen Normen nicht entspricht und das Spiel der Scheinheiligkeit nicht mitspielt. Wie der Titel bereits andeutet, treibt Fleischmann sein Szenario unnachgiebig auf die Spitze …

Filmszene aus Angst essen Seele auf

Angst essen Seele auf

Rainer Werner Fassbinder | 1974 | Deutschland

Angst essen Seele auf zählt zu den bekanntesten Klassikern aus dem umfangreichen Schaffen Rainer Werner Fassbinders. Das an die Werke Douglas Sirks angelehnte Melodram über eine unkonventionelle Liebesbeziehung überzeugt durch lebenskluge Ideen und einen Tonfall, der zwischen lebensbejahender Herzlichkeit und stiller Traurigkeit wechselt; die großartige Brigitte Mira transportiert beide Stimmungen und schwächt Fassbinders typische Theaterhaftigkeit ab, die wie so oft als kritisch-ironische Bestandsaufnahme des bürgerlichen Milieus gelesen werden kann.

Filmszene aus Händler der vier Jahreszeiten

Händler der vier Jahreszeiten

Rainer Werner Fassbinder | 1972 | Deutschland

Händler der vier Jahreszeiten läutete das Hauptwerk von Rainer Werner Fassbinder ein und wurde zum Archetyp für spätere Arbeiten. Der Autorenfilmer passte seinen Stil an und erzielte so den erhofften Durchbruch beim breiten Publikum. Anhand eines unter den Ansprüchen seiner Mitmenschen leidenden Obsthändlers entwirft Fassbinder das Bild einer bürgerlichen Gesellschaft voller Zwänge und Ressentiments, die nur funktioniert, indem sich die Menschen gegenseitig ausbeuten. Wer sich dem System nicht unterwirft, wird daraus entfernt.

Filmszene aus Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Wim Wenders | 1972 | Deutschland

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ist der zweite Spielfilm von Wim Wenders und basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Literaturnobelpreisträger Peter Handke, der auch am Drehbuch mitarbeitete. Der Film startet als spröde Alltagsbeobachtung eines des Lebens müden Außenseiters und entwickelt sich zum psychologisch dichten Kriminalfilm. Wenders gibt wenig vom Innenleben des Protagonisten preis und überlässt es uns Zuschauern die Interpretation des Geschehens. Die unaufgeregte, distanzierte Inszenierung verstärkt den Eindruck des Irrealen, das sich unerkannt mitten in der alltäglichen Normalität vollzieht.

Die wichtigsten Werke des Neuen Deutschen Films

1966 – Es (Ulrich Schamoni)
1966 – Der junge Törless (Volker Schlöndorff)
1969 – Liebe ist kälter als der Tod (Rainer Werner Fassbinder)
1969 – Jagdszenen aus Niederbayern (Peter Fleischmann)
1969 – Katzelmacher (Rainer Werner Fassbinder)
1969 – Detektive – Ihr erster Fall war eine Frau (Rudolf Thome)
1970 – Warum läuft Herr R. Amok? (Rainer Werner Fassbinder)
1970 – o.k. (Michael Verhoeven)
1971 – Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (Rosa von Praunheim)
1972 – Händler der vier Jahreszeiten (Rainer Werner Fassbinder)
1972 – Das Unheil (Peter Fleischmann)
1972 – Aguirre, der Zorn Gottes (Werner Herzog)
1972 – Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (Wim Wenders)
1972 – Die bitteren Tränen der Petra von Kant (Rainer Werner Fassbinder)
1973 – Welt am Draht (Rainer Werner Fassbinder)
1974 – Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder)

1974 – Martha (Rainer Werner Fassbinder)
1974 – Supermarkt (Roland Klick)
1974 – Alice in den Städten (Wim Wenders)
1975 – Faustrecht der Freiheit (Rainer Werner Fassbinder)
1975 – Angst vor der Angst (Rainer Werner Fassbinder)
1975 – Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Margarethe von Trotta, Volker Schlöndorff)
1976 – Im Lauf der Zeit (Wim Wenders)
1977 – Der amerikanische Freund (Wim Wenders)
1977 – Stroszek (Werner Herzog)
1978 – Deutschland im Herbst (diverse)
1979 – Die Blechtrommel (Volker Schlöndorff)
1979 – Die Ehe der Maria Braun (Rainer Werner Fassbinder)
1981 – Lola (Rainer Werner Fassbinder)
1981 – Die bleierne Zeit (Margarethe von Trotta)
1982 – Fitzcarraldo (Werner Herzog)

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