O-Töne:

Kontroverses Kino

Das Thema

Die inhaltlichen und cinematografischen Hemmschwellen haben sich im Lauf der Jahrzehnte gewandelt, die Qualitäten kontroversen Filmemachens bleiben jedoch zeitlos: Es kann uns ganz besonders herausfordern, überraschen und zur Diskussion anregen.

Im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Publikums wird allerdings auch gerne aus den falschen Gründen mit Kontroversem kokettiert – Tabubrüche als Marketingmaßnahme, reißerische Themen als leeres Verkaufsargument; kontroverse Filme können auch furchtbar nerven und empören.

Da die Fallhöhe in diesem Bereich so groß ist, lohnt sich ein Blick auf die Frage:

Welcher kontroverse Film lohnt sich wirklich?

Foto von Philippe Paturel

Philippe Paturel

Chefredakteur bei CinemaForever.net

empfiehlt

Audition

Takashi Miike | 1999 | Japan

Natürlich könnte ich jetzt die üblichen Verdächtigen nennen, die ebenso emotional wie kontrovers diskutiert werden, wie Gaspar Noés Irreversibel. Doch bewusst habe ich mich für einen Film entschieden, den ich bei der Erstsichtung selbst überhaupt nicht mochte. Takashi Miikes Audition verursacht Schmerzen wie nur wenige andere radikale Werke und kann beim Zuschauer gleichermaßen Faszination wie Abscheu hervorrufen.

Selten hat sich ein Film so tief unter meine Haut gebohrt. Wer denkt, subtiler Horror könne nicht angsteinflößend werden, wird von dieser subversiven Zerlegung der Einsamkeit und Entfremdung in der westlichen Gesellschaft eines Besseren belehrt. Nichts für schwache Gemüter, aber eine brillante Parabel über die japanische Kultur. Miike zeigt meisterhaft die Abgründe menschlicher Existenz und entfaltet dabei eine verstörende Schönheit. Audition ist ein Film, der die Empfindungen des Betrachters nachhaltig herausfordert.

Filmszene aus Audition
Foto von Thomas Laufersweiler

Thomas Laufersweiler

Host von SchönerDenken, Soylent Screen und Keisuke-Kinoshita.de, Heimat des Filmpodcastverzeichnisses und von Japanuary

empfiehlt

mother!

Darren Aronofsky | 2017 | USA

Was macht einen Film kontrovers? Die Überschreitung einer Grenze? Das macht die Definition schwer, denn Grenzen verlaufen für jeden Menschen anders. Sehr unterschiedliche Meinungen gab es über Darren Aronofskys mother!, eine Arthouse-Bibel-Interpretation mit den Mitteln des Horrorfilms.

Aronofsky packt – ohne den Hauch von Subtilität – sehr viel in diesen Film: eine Allegorie der Entstehung und Vernichtung der Welt, unzählige Elemente aus dem Baukasten der christlichen Kultur, die Krise der männlichen Schöpfungskraft und die Verletzlichkeit der natürlichen Schöpfung, Eitelkeit, Eifersucht und das Ende der Zivilisation und der Welt durch schiere Bösartigkeit. Zuviel? Zu wirr? Zu brutal? Zu verkopft? Nein, Aronofskys mother! ist vor allem mutig, ein Monster von einem Film, dessen düstere und eskalierende Bilder noch Jahre nachhallen. Ein rücksichtsloses Kunstwerk, das Fragen über Natur, Gott, Religion und vor allem über die ausweglose Selbstvernichtung der Menschheit aufwirft.

Filmszene aus mother!
Foto von Niklas Pollmann

Niklas Pollmann

Autor, Filmemacher, Blogger bei amwegesrand.com

empfiehlt

DAU. Degeneration

Ilya Khrzhanovsky | 2020 | Russland, Ukraine, Großbritannien, Deutschland

DAU. ist ein monumentales Filmprojekt, das jetzt schon vollkommen aus seiner Zeit fällt. In Zeiten (zurecht!) steigender Sensibilität am Set, wachsam gegenüber toxischer Machtdynamiken und Übergriffen zu sein, dreht der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky ein mehrere Filme einschließendes Megawerk, das erst genau durch solche opaken Machthierarchien und durch ein allumfassendes Grenzen verwischendes Historiereenactment, funktioniert – und fasziniert! Und das ganz sicher noch Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung.

Filmszene aus Dau. Degeneration
Foto von Stephan Fasold

Stephan Fasold

Produzent des Podcasts Kino Korea

empfiehlt

Oasis

Lee Chang-dong | 2002 | Südkorea

Oasis von Lee Chang-dong erzählt die Liebesgeschichte des verhaltensauffälligen Jong-du und der an Zerebralparese erkrankten Gong-ju. Beide Figuren teilen die Erfahrung von familiärer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Diskriminierung. Daher entwickelt sich trotz des anfänglich übergriffigen Verhaltens von Jong-du eine unschuldige Liebesbeziehung. Beide Figuren werden durch ihr Umfeld ausgenutzt und schaffen es nicht, sich diesen Strukturen zu entziehen. Deshalb bedeutet für sie die gemeinsame Beziehung eine Oase innerhalb der harschen Realität.

Auch für uns als Zuschauer*innen verschwimmen beide Ebenen im Laufe des Films zunehmend. Lee Chang-dong erzählt stets aufwühlende Geschichten von den Randständigen und Übersehenen der Gesellschaft. Sein internationaler Durchbruch kam durch Oasis, ein Meisterwerk und für mich sein kontroversester Film. Die beiden Schauspieler Sol Kyung-gu und Moon So-ri waren zuvor schon in seinem Film Peppermint Candy (2000) zu sehen – eine weitere große Empfehlung.

Foto von Sebastian Schmidt

Sebastian Schmidt

Regisseur und freiberuflicher Filmemacher, Podcaster

empfiehlt

The Entity

Sidney J. Furie | 1981 | USA

Carla Moran (ganz fantastisch gespielt von Barbara Hershey) wird von einem unsichtbaren Wesen in ihrem Haus heimgesucht und mehrfach vergewaltigt. Verängstigt von den unheimlichen Geschehnissen sucht sie einen Parapsychologen auf.

Der Film vertritt eine Haltung, die ziemlich bemerkenswert für diese Art von „Unterhaltungs-Kino“ ist: Die Hauptdarstellerin muss sich nicht nur mit andauernden Vergewaltigungen auseinandersetzen, sondern auch mit beinahe allen möglichen Formen des Victim Blamings. Und dafür werden beinahe alle männlichen Darsteller als furchtbare, sexistische und/oder übergriffige Personen dargestellt. Und genau das ist, wenn man sich mit der Thematik auseinandersetzt, der große Horror an diesem Film. Ron Silver glänzt hier ganz besonders als ambivalent gezeichneter Widerling.

The Entity ist tonal nicht immer korrekt, enthält trotz seiner Aussage immer noch zu viel Male-Gaze, ist aber in Summe ein interessanter und vor allem cinematisch gelungener Film, über den sich vortrefflich diskutieren lässt.

Foto von Tom Schünemann

Tom Schünemann

Der Gastgeber – Autor von Filmsucht.org

empfiehlt

491

Vilgot Sjöman | 1964 | Schweden

Bei kontroversen Filmen denke ich zuerst an Klassiker wie Die 120 Tage von Sodom oder Gaspar Noés Irreversibel. Statt dieser offensichtlichen Kandidaten möchte ich aber lieber einen schwedischen Skandalfilm aus den Sechziger Jahren vorstellen, der nahezu vergessen ist und trotz seines Alters immer noch zu schockieren vermag.

491 begleitet ein Resozialisierungsprojekt für straffällige Jugendliche, die zusammen in einer WG leben und von Anfang an einen asozialen Eindruck machen. Doch je länger der Film von Vilgot Sjöman läuft, desto klarer kristallisiert sich heraus, dass die Protagonisten die Produkte ihrer Umgebung sind – Sjöman zeichnet die Welt der Erwachsenen als durch Kälte, Doppelmoral und Missbrauch geprägt. Der Regisseur formuliert seine Anklage als scharfe Polemik und opferte dafür auch kommerzielle Erwägungen – 491 eskaliert das Geschehen so stark wie nur möglich. Durch das triste Schwarz-Weiß und die fehlende musikalische Untermalung verstärkt sich die Wirkung von Sjömans gallenbitterer Abrechnung noch.

Filmszene aus 491

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