Wider der Objektivität

bei der Filmrezeption

Manche Grundsatzfragen tauchen im Filmdiskurs regelmäßig auf – diese Artikelserie knöpft sich thematische Dauerbrenner vor, um Einsteigern Orientierung zu bieten und alten Hasen als verlinkbare Ressource für die nächste Diskussion zu dienen.

Ein Thema, das regelmäßig im Kommentarbereich von Filmportalen und Feuilletons aufkommt, ist der Vorwurf einer mangelnden Objektivität. Insbesondere bei Verrissen heißt es dann oft, die Kritik sei voreingenommen und stelle den Film schlechter dar, als er sei.

Auch mich erreichen manchmal Bitten nach „mehr Objektivität“, insbesondere nach kritischen Rezensionen zu populären Filmen wie Avengers: Infinity War oder Joker.

Da dieses Thema ein Dauerbrenner ist, kommt es heute auf den Prüfstand: Dieser Artikel soll darlegen, dass Objektivität bei der Filmrezeption weder wünschenswert noch möglich ist.

Warum der Wunsch nach Objektivität kontraproduktiv ist

Hinter dem Wunsch nach Objektivität verbirgt sich eine für die heutige Zeit typische Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Vereinfachung:

Die Suche nach Objektivität ist in erster Linie eine Suche nach einfachen Wahrheiten. Anhand einer allgemeingültigen objektiven Wahrheit ließen sich gegensätzliche Ansichten wunderbar als minderwertige subjektive Meinungen abtun. Doch damit wäre nichts gewonnen – eine solche Eindeutigkeit zerstört die Meinungspluralität und führt jeden Diskurs ad absurdum; wozu noch über Filme reden, wenn es nur eine Meinung geben kann?

Allerdings funktioniert Objektivität nur über eine grundsätzliche Vergleichbarkeit. Um diese zu erreichen, bleibt gar nichts anderes übrig, als Filme in vordefinierte Maßstäbe zu quetschen – wir landen geradewegs im Schubladendenken. Damit geht zwangsläufig eine Vereinfachung einher, die der Kunst die Vielfalt nimmt. Das Denken in Kategorien bedeutet, sich gegen Ambivalenz und für Denkfaulheit zu entscheiden.

Aus diesen Gründen halte ich die Forderung nach Objektivität per se für falsch. Mit dem Versuch, Filme objektiv zu betrachten, ist nichts zu gewinnen. Objektivität macht komplexe Kunst simpel und große Filme klein; sie verschließt sich dem Besonderen und sieht nur das Profane.

Eine objektive Filmrezeption führt nicht nur in die verkehrte Richtung, sondern ist ohnehin unmöglich, wie die nachfolgenden vier Gründe belegen:

Grund 1: Objektiven Fakten fehlt die Aussagekraft

Es gibt einige Merkmale, die sich objektiv messen lassen: etwa die Spielzeit eines Films, die Anzahl der Schnitte oder die durchschnittliche Szenenlänge. Doch welche Erkenntnisse können wir daraus über die Qualität eines Films ableiten?

Das Meisterwerk Am Rande des Rollfelds läuft lediglich 30 Minuten, der Klassiker Die schöne Querulantin nimmt sich hingegen 240 Minuten Zeit.

Die Szenenlänge von Das Bourne Ultimatum beträgt durchschnittlich 2 Sekunden, während Bela Tarrs Das Turiner Pferd auf wahnwitzige 228 Sekunden kommt.

Objektive Werte lassen sich ermitteln, aber nicht gegeneinander abwägen. Ihr Vergleich ermöglicht keinen Erkenntnisgewinn zur Qualität der Filme.

Grund 2: Fehlende Vergleichbarkeit

Ein Großteil der Bestandteile eines Films lässt sich ohnehin nicht objektiv bemessen. Nehmen wir nur mal die Schauspielerei:

Gemeinhin gilt ausdrucksloses Spiel als schlecht, doch gerade das stoische Auftreten von Ryan Gosling in Drive oder Kristen Stewart in Personal Shopper funktioniert prächtig. Auch bei Alfred Hitchcock oder Christopher Nolan halten sich die Darsteller bedeckt, weil sie in erster Linie Funktionsträger für die Handlung sind.

Das Gegenbeispiel: Overacting ist verpönt und erweist sich doch – im richtigen Kontext – als wirkungsvolles Mittel, wie Isabelle Adjani in Possession oder Al Pacino in Scarface beweisen. Und selbst grotesk schlechtes Schauspiel kann eine Berechtigung haben: Als berühmt-berüchtigtes Beispiel sei die Darbietung von Elizabeth Berkley in Showgirls genannt.

Für eine Beurteilung ist immer ein individueller Kontext nötig, was die objektive Vergleichbarkeit stark einschränkt.

Grund 3: Jeder Zuschauer ist anders

Filme finden nicht nur auf der Leinwand, sondern auch in unseren Köpfen statt. Daher spielt der persönliche, kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund des Zuschauers eine wesentliche Rolle bei der Rezeption, ebenso die Filmerfahrung und die Umstände des Schauens.

Wäre objektives Filmschauen möglich, würden eine 55-jährige Hausfrau aus Japan und ein 19-jähriger Kaffeebauer aus Äthiopien, ein 25-jähriger Berufssoldat aus Frankreich und ein amerikanischer Wall-Street-Broker im Rentenalter einen Film allesamt aus derselben Perspektive sehen – ein Ding der Unmöglichkeit.

Grund 4: Die biologische Unmöglichkeit

Selbst auf der grundlegendsten Rezeptionsebene – der bloßen Sinneswahrnehmung – gibt es keine Objektivität. Dafür liefert der experimentelle Kurzfilm The Flicker ein hervorragendes Beispiel.

Tony Conrads Werk reiht schwarze und weiße Frames in unterschiedlichen Geschwindigkeiten aneinander, wodurch ein Stroboskop-Effekt entsteht. Faktisch sieht jeder Zuschauer dasselbe – ein Flackern aus Schwarz und Weiß.

Doch obwohl The Flicker keinerlei Handlung, Schauspieler oder kulturellen Einschlag besitzt, es schlichtweg keine Interpretationsebene gibt, sieht jeder Zuschauer einen anderen Film.

Filmszene aus The Flicker

Der rasante Stroboskop-Effekt provoziert unser Gehirn, das krampfhaft versucht, dem Wirrwarr Informationen zu entnehmen. Insbesondere unter optimalen Vorführbedingungen – dunkler Raum, großes Bild – nehmen wir mit der Zeit geometrische Formen wahr, die gar nicht da sind.

Das können Rechtecke, Kreise, Sonnen oder Explosionen sein; in jedem Fall sind es individuelle Bilder, die direkt unserer Nervenbahn entstammen und nicht im Bildmaterial angelegt sind. Somit sieht jeder Zuschauer trotz identischen Ausgangsmaterials seinen eigenen Film.

Obwohl Tony Conrad das komplexe Medium Film um jeden Inhalt und jede Bedeutung erleichtert und auf ein weißes und ein schwarzes Bild reduziert, gibt es selbst hier keine Objektivität.

Fazit

Unsere biologische und kulturelle Prägung lassen das objektive Rezipieren eines Films ebenso wenig zu wie die Tatsache, dass das Medium selbst keine objektiven Kategorien anbietet und eine Auseinandersetzung nur im Rahmen des jeweiligen Kontextes möglich ist.

Allerdings sollte daraus nicht geschlussfolgert werden, Filme wären ein rein subjektives Vergnügen oder eine bloße Sache des individuellen Geschmacks, wie der zweite Teil dieser Artikelserie darlegen wird.

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