The Flicker

Ein Film von Tony Conrad

 

 

 | Erscheinungsjahr: 1965

 | Jahrzehnt: 1960 - 1969

 | Produktionsland: USA

 | Gattung: Kurzfilm

Eine einmalige Erfahrung: Der Experimentalfilm The Flicker spielt unmittelbar mit unserem Nervensystem und erlaubt es nebenbei, über die Beschaffenheit unserer Wahrnehmung zu sinnieren.

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Filmkritik:

Film – das sind 24 Frames pro Sekunde. Jedes Einzelbild ist gefüllt mit Objekten, Schauspielern, Kulissen. Frame auf Frame auf Frame entstehen dann bewegte Bilder, die sich zu Szenen zusammenfügen, die Narration und Intention suggerieren. Der Zuschauer sieht die Bilder, filtert aus ihnen die enthaltenen Informationen und lässt diese von seinem Gehirn interpretieren.

Doch Tony Conrads bahnbrechender Experimentalfilm The Flicker stellt diese Standardrezeption zur Gänze auf den Kopf, denn dessen Frames bieten lediglich zwei verschiedene Bilder: Schwarz und Weiß. Beim Schauen von The Flicker erhält der Rezipient keine Chance, manuell nach Informationen zu selektieren; Conrads Werk brennt sich direkt in das neurale Nervensystem des Zuschauers, wirkt ohne Filterung direkt auf ihn ein und übt damit eine beeindruckende physische Wirkung aus.

Dabei ist das Prinzip von The Flicker ganz einfach: Regisseur Tony Conrad reihte weiße und schwarze Frames aneinander, sodass beim Abspielen ein Flackern, also ein Stroboskop-Effekt entsteht. Weil die Weiß-Schwarz-Intervalle in unterschiedlichen Geschwindigkeiten angeordnet sind, ergeben sich ruhige und schnelle, heftige Phasen. Achtundzwanzig Minuten wird der Zuschauer diesen Rhythmen ausgesetzt. Zugegebenermaßen gestaltet sich dieses Experiment etwas anstrengend, stellt aber auch eine magische Erfahrung dar, die aus den Anpassungsversuchen unserer Wahrnehmungsorgane und Nervenzellen entsteht.

Der Zuschauer guckt The Flicker, aber er „sieht“ erst einmal nichts; es gibt keine Informationen, die sich aus dem im ersten Drittel noch langsamen Geflacker entnehmen lassen. Doch unser überfordertes, ein Leben lang konditioniertes Gehirn versucht dennoch krampfhaft, Informationen zu erkennen. Die Folge: Der Rezipient beginnt Muster und Formen zu sehen, die gar nicht da sind. Anfangs können das Kreise und Vierecke sein und während schnellerer Montage dann Blumen, Sonnen oder Explosionen. Während des in atemberaubender Geschwindigkeit auf den Zuschauer niederprasselnden Finales scheint der Film mit Zooms zu arbeiten und sich letztlich sogar über die Grenzen des Fernsehers hinaus (!) auszudehnen.

Filmwissenschaftlich sorgt The Flicker für Denkanstöße auf vielerlei Ebenen: Wenn unsere Wahrnehmung schon mit einem einfachen Wechsel von einem weißen zu einem schwarzen Bild Probleme hat – wie verhält sie sich dann bei komplexen Bildern aus konventionellen Spielfilmen? Wieviel Prozent des Leinwandgeschehens nehmen wir überhaupt wahr, wenn unsere Wahrnehmung doch so grob ausfällt? Wie oft muss ein Film gesehen werden, um ihn optisch wirklich erfassen und verarbeiten zu können? Wann können wir wirklich sicher sein, dass die Bildübertragung zwischen Leinwand und Kopf überhaupt korrekt ist?

Als wäre das nicht schon genug, kann Tony Conrads Werk bei jeder Sichtung immer wieder aufs Neue begeistern: Weil er keine konventionell-einheitlichen Informationen zur Verfügung stellen muss, kann jeder Zuschauer seinen eigenen Film sehen; jede Sichtung stellt ein einzigartiges individuelles Erlebnis dar. Dies macht The Flicker gewissermaßen zu einem 4D-Film, der immer wieder neu gefühlt werden kann und eine hochinteressante physische Erfahrung bietet, die das bereits 1965 veröffentlichte Experiment zu einem sehenswerten Kleinod der Filmgeschichte macht.

★★★★☆☆

1960 – 1969

Die Sechziger Jahre zählen zu den revolutionärsten Jahrzehnten der Kinogeschichte. Mehrere Strömungen – die neuen Wellen – verschoben künstlerische Grenzen und modernisierten die Filmsprache. Viele Regisseure ließen die themen der vorherigen Generationen hinter sich und drehten freiere, gesellschaftskritischere Werke.

Kurzfilm

Als Kurzfilme gelten Werke mit einer Spielzeit von unter 50 Minuten. In ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft als Lückenfüller in Kinos eingesetzt, verschwanden Kurzfilme zunehmend aus dem öffentlichen Fokus. Für Experimentalfilmer und angehende Regisseure blieben Kurzfilme jedoch ein Mittel, um ihre Vorstellungen ohne große Budgets umzusetzen. Dabei entstanden viele Arbeiten, die trotz ihrer eingeschränkten Laufzeit zum Kanon der Kinogeschichte zählen.