O-Töne:
Deutsche Klassiker
Die neue Rubrik
Heute startet eine neue Rubrik auf Filmsucht.org. Unter dem Titel O-Töne kommen erstmals in der Geschichte dieser Website externe Autor:innen zu Wort, die einmal im Monat ihre Filmempfehlungen zu konkreten, von mir gestellten Fragen teilen.
Die erste Folge dieser Reihe sucht nach weniger populären deutschen Klassikern:
Das Thema
Geht es um die Klassiker der deutschen Filmgeschichte, werden immer wieder dieselben Titel genannt – Nosferatu, Metropolis und M, Angst essen Seele auf und Aguirre, Der Himmel über Berlin und Das Boot.
Bei aller Wertschätzung dieser kanonischen Speerspitzen hat das deutsche Kino noch viel mehr zu bieten. Die erste Frage für die O-Töne lautet daher:
„
Welcher deutsche Klassiker verdient eine größere Beachtung?
“
Sebastian Seidler
Freier Autor (u.a. bei Zeit Online, NZZ am Sonntag, Filmdienst, Berliner Zeitung, Kino-Zeit) und Podcaster (Projektionen Podcasts)
empfiehlt
Supermarkt
Roland Klick | 1974 | Deutschland
Dieser rohe Hamburger Film über einen Raubüberfall, über die Hoffnung auf ein anderes Leben und männliche Verirrungen ist ein grandioser Genrefilm, der gleichzeitig die norddeutsche Metropole in ihrer Zeit abbildet: Schmutzig und gefährlich ist dieses Hamburg der 80er, das Regisseur Roland Klick hier auf die Leinwand brennt. Was diesen Film in unserem so genrevergessenen Land so besonders macht, das ist seine Energie und sein Mut, „all der Krach und Schmutz und Staub“ (Tomte) in eine flirrende Form zu überführen. Der Film ist geschätzt. Ihm sollte ein Denkmal gebaut werden.
Niklas Pollmann
Autor, Filmemacher, Blogger bei amwegesrand.com
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Die Verrohung des Franz Blum
Reinhard Hauff | 1974 | Deutschland
Heutzutage kaum vorstellbar, dass deutsches Fernsehen mal Avantgarde gewesen sein könnte: Burkhard Driest, der zur Finanzierung seines Jurastudiums eine Bank überfiel, dabei erwischt wurde, ins Gefängnis kam und seine Erlebnisse dort in einem gesellschaftskritischen Roman verarbeitete, schrieb für dessen TV-Adaption auch sogleich das Drehbuch und spielte darüber hinaus auch noch als Nebendarsteller mit. Reinhard Hauffs Verfilmung besticht dabei durch großartige, markige Charaktere und Dialoge, sowie insbesondere durch eine präzise Darstellung kapitalistischer Machtdynamiken, für die das System Gefängnis als eine Art Modellbaukasten herhält. Abseits der üblichen Verdächtigen einer der besten deutschen Filme aller Zeiten!
Thomas Laufersweiler
Host von SchönerDenken, Soylent Screen und Keisuke-Kinoshita.de, Heimat des Filmpodcastverzeichnisses und von Japanuary
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Die kommenden Tage
Lars Kraume | 2010 | Deutschland
Wenige Filmemacher wagen den Blick in die nahe Zukunft, um die Gegenwart zu verhandeln. Angesichts der kommenden Klimakatastrophe, der wachsenden Migration und der Bedrohung der Demokratien brauchen wir Filme wie Children of Men und Filme wie Die kommenden Tage von Lars Kraume. Kraume zeigt die Zerbrechlichkeit unserer Lebensentwürfe, wenn die politische und wirtschaftliche Ordnung ins Wanken gerät. Die Science-Fiction-Elemente sind subtil, das Ensemble mit August Diehl, Daniel Brühl und Johanna Wokalek ist großartig. Die Near-Future-Dystopie Die kommenden Tage ist 13 Jahre später erschreckend nah an uns herangerückt: ein herausragender, berührender, intensiver und kluger Film, der aufrütteln kann.
Patrick Wellinski
Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur, WDR 5, WDR 3, radioeins (RBB)
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Playgirl
Will Tremper | 1966 | Deutschland
Im Schatten der Mauer können ganz luftige Karrieren entstehen. Vor allem für das Model Alexandra ist das ein Traum. Auch wenn die Soldaten an der Berliner Mauer sich laut beschweren, wenn die Schönheit ein Fotoshooting am Grenzstreifen organisiert. „Ach, geht ihr mir da weg mit eurer Mauer …“, ruft sie ihnen im engen Outfit entgegen.
Regisseur Will Tremper erzählt in seinem vierten Spielfilm Playgirl von der Coolness einer geteilten Stadt mit viel Sex und Musik. Seine Bilder sind dabei offen und ungezwungen, wie es kaum ein Berlin-Film mehr sein wird. Die Zeitgeschichte wird an den Rand gedrängt, die isolierte Stadt wird zu einem Refugium für Jugend und unverbrauchte Gefühle. Berlin wird von den jungen Figuren erobert. Vielleicht ist eine Zukunft sogar möglich? Und Eva Renzi als Alexandra versprüht eine Lässigkeit, die selbst im französischen Kino in der Zeit kaum getoppt wird. Playgirl ist das Porträt eines immer aktuellen Lebensgefühls: Freiheit.
Sebastian Schmidt
empfiehlt
Spur der Steine
Frank Beyer | 1966 | Deutschland
Hannes Balla herrscht als Brigadeführer der Zimmerleute über die Großbaustelle Schkonka. Eines Tages tauchen zwei Neue auf der Baustelle auf: die junge Ingenieurin Kati Klee und der Parteisekretär Werner Horrath. Sie bringen Ballas Welt gehörig aus dem Gleichgewicht.
In der gesamtdeutschen Filmgeschichte wird gerne das Kapitel der DDR übersehen. Dabei gibt es mit Die Spur der Steine einen gesellschaftskritischen Klassiker, der es zu Lebzeiten des Arbeiter- und Bauernstaates nie breitflächig ins Kino geschafft hat, zu sehen. Denn was sich kritisch mit dem System und der Führung auseinandersetzte, wurde verboten. Frank Beyer inszenierte hier einen inhaltlich und visuell beeindruckenden Klassiker der sich bedenkenlos in eine Reihe neben Fellini, Bergmann und Ford einreihen kann.
Stephan Fasold
Produzent des Podcasts Kino Korea
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Angst
Gerald Kargl | 1983 | Österreich
Okay, an dieser Stelle Angst zu nennen ist etwas geschummelt, da der Film in Österreich produziert wurde. Zumindest ist er aber deutschsprachig und Hauptdarsteller Erwin Leder ist bekannt aus DEM Klassiker Das Boot – er spielt dort den gespenstischen Maschinisten Johann. Angst nimmt uns mit auf eine intensive Reise in die Gedankenwelt eines Serienmörders, der seine Taten per Voiceover kommentiert.
Die Geschichte ist lose inspiriert von einem realen Fall in St. Pölten. Durch die explizite Gewaltdarstellung, die experimentelle Musik und die wahnsinnige Kameraführung entwickelt Angst einen unvergleichlichen Sog und hat mich schockiert wie selten ein anderer Film. Er ist nihilistisch, hoffnungslos und einmalig innerhalb des deutschsprachigen Kinos. Gaspar Noé bezeichnet Angst als einen seiner Lieblingsfilme und Inspiration für Menschenfeind und Irreversible.
Tom Schünemann
Der Gastgeber – Autor von Filmsucht.org
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Schwarzer Kies
Helmut Käutner | 1961 | Deutschland
Das Noir-Melodram Schwarzer Kies war von Beginn an als gezielter Angriff auf deutsche Tabus geplant: Helmut Käutner nimmt die hässlichen Seiten des Wirtschaftswunders ins Visier und zerlegt das Idealbild des deutschen Wiederaufbaus am Beispiel einer Kleinstadt, die von Zynismus und Gier durchzogen ist. Käutner kombiniert eine stimmungsvolle Milieubeschreibung mit hübschen Schwarz-Weiß-Bildern und einem omnipräsenten Fatalismus, der uns bis zuletzt im Unklaren darüber lässt, ob wir einer Liebesgeschichte oder einer Tragödie beiwohnen.