Der freie Wille

Ein Film von Matthias Glasner

Genre: Drama

 

 | Erscheinungsjahr: 2006

 | Jahrzehnt: 2000 - 2009

 | Produktionsland: Deutschland

 

Der freie Wille wagt sich an ein heikles Sujet und entwirft ein beinahe dreistündiges Psychogram eines Triebtäters, der nach der Haftentlassung mit seiner Krankheit kämpft.

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Filmkritik:

Der Film startet mit einer verstörend realistisch inszenierten Vergewaltigung. Der von Co-Produzent Jürgen Vogel gespielte Täter wird auf dem Höhepunkt seiner Krankheit gezeigt: durchgedreht, unmenschlich. Harter Schnitt – neun Jahre später sitzt Theo beim Entlassungsgespräch des Maßregelvollzugs, ruhig, etwas zusammengesunken.

Mit leiser Stimme erzählt er, dass er sich nun besser fühlt. Für den Zuschauer liegen nur wenige Minuten zwischen den brutalen Vergewaltigungsszenen und diesem fast schon besinnlichen Moment – glauben wir (an) Theo? Vielleicht würden wir gerne, doch wenn er mitteilt, seit drei Monaten keine „Triebhemmer“ mehr nehmen zu müssen, geraten wir ins Wanken – kann man so einen auf die Gesellschaft loslassen?

Um es vorwegzunehmen: Der freie Wille sucht nicht zwingend nach Antworten oder nach höherer Moral und präsentiert auch keine Lösungen. Das Werk von Matthias Glasner zählt eben nicht zu diesen ach so ernsten Problemfilmen, die sich ihrem Sujet mit sorgenvoller Miene fast schon formelhaft nähern, in dem sie anhand klar als solche ausgestellter Schlüsselszenen fein säuberlich Ursache, Wirkung und Katharsis diktieren, damit das Publikum die Auseinandersetzung erleichtert abhaken kann und das Gefühl bekommt, sich „mit dem Thema beschäftigt“ zu haben.

Dass Glasner eben nicht seelenlos Plotpoints abhakt, sorgt letztlich auch für die lange Spielzeit des Films, der Theo eben auch im Alltag folgt. Wer ihn bei seinen ständigen sportlichen Aktivitäten sieht, bekommt ein Gefühl für Theos Konflikt mit dem eigenen Körper, den er so züchtigen will. Wenn Theo eine Minute lang neben einem Plakat sitzt, das mit nackten Menschen für Parfüm wirbt, wird uns wieder bewusst, wie selbstverständlich wir mit unserer sexualisierten Welt umgehen können und wie schwer es für Theo sein muss.

Dem Film gelingt es, dem Zuschauer durch unzählige Kleinigkeiten die Möglichkeit zu geben, sich in die Wahrnehmung dieses tabubehafteten kranken Menschen einzuklinken. Wer unbedingt eine Botschaft in Glasners Werk finden will, bekommt sie durch diese Details – es geht nicht um Antworten und Lösungen, sondern zunächst einmal um Differenzierung, um die Bereitschaft und die Möglichkeit, Theos Welt zu begreifen.

Doch wie gesagt: Der freie Wille zählt ohnehin nicht zu diesen Problemfilmen, sondern entfaltet auch die Magie des Kinos und lässt den mehrfachen Vergewaltiger Theo auf die unsichere, mutmaßlich in der Vergangenheit missbrauchte Nettie treffen. Dieser Zufall wirkt absurd, aber eben auch auf eine verrückte Art romantisch.

Wenn diese beiden dysfunktionalen Menschen ganz zögerlich zueinanderfinden und jede noch so winzige Kleinigkeit dieses zerbrechliche Gebilde aus Hoffnungen und Ängsten zerstören könnte, offenbart sich ein unkonventioneller emotionaler Kern – eine derartige Zärtlichkeit schien zu Beginn des Films noch undenkbar und bildet eine zweite Ebene; Theos Kampf mit sich selbst wird nun auf einem neuen Schlachtfeld ausgetragen, die Einsätze erhöhen sich.

Ermöglicht wird diese Zärtlichkeit auch durch die Inszenierung von Matthias Glasner, die enorm zurückhaltend ausfällt, ohne dokumentarisch zu wirken; der Film lässt lediglich schmückenden Schnickschnack weg und konzentriert sich auf das Wesentliche: Die Kamera bleibt dicht an den Protagonisten. Der Verzicht auf jegliche Filmmusik unterstützt die Wahrhaftigkeit des Films, der dennoch Momente von großer Spannung auffährt.

Einige Szenen animieren zum Fingernägelkauen und mitzittern, doch die Spannung ist immersiv – sie wird nicht durch eine künstliche Dramaturgie aufgebauscht, sondern ergibt sich ganz von selbst: Wann immer Theo sich im selben Bildausschnitt mit einer Frau befindet, entsteht latente Gefahr. Dabei gelingt es Der freie Wille, dass wir uns genauso um die Frau sorgen wie um Theo.

★★★★☆☆

Drama

Der Dramabegriff dient als Auffangbecken für Filme, die sich keinem spezifischerem Genre zuordnen lassen. Dementsprechend viele Schattierungen ergeben sich: vom Sozial- über das Gesellschaftsdrama, das Melodram und die Tragikomödie. Die Gemeinsamkeiten dieser Subgenres liegen in realistischen, konfliktreichen Szenarien und einer Konzentration auf die Figuren.