Die Frau in den Dünen
Ein Film von Hiroshi Teshigahara
Genre: Drama
| Strömung: Japanische Neue Welle
| Erscheinungsjahr: 1964
| Jahrzehnt: 1960 - 1969
| Produktionsland: Japan
Nicht weniger als drei Genies auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft prägten Die Frau in den Dünen. Das japanische Meisterwerk sorgt mit seiner parabelhaften Geschichte, überwältigenden Bildern und der bemerkenswerten Musik für ein unvergleichliches Filmerlebnis.
Filmkritik:
Die Frau in den Dünen schildert den Werdegang eines Lehrers, der in einem wüstenartigen Landstrich nach Insekten sucht. Er verpasst den letzten Bus zurück nach Tokio und bekommt im örtlichen Dorf einen Schlafplatz angeboten – in einer kargen Hütte am Boden eines zehn Meter tiefen Sandlochs. Doch am nächsten Morgen ist die nach oben führende Strickleiter verschwunden und der Mann gefangen. Fortan muss er Sand schaufeln, um zu überleben.
Der Stoff stammt aus dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Kōbō Abe, der als erster japanischer Autor internationale Anerkennung erreichte. Abe verehrte Franz Kafka und Jean-Paul Sartre; seine Arbeiten setzten sich auf ironische Weise mit den Eigenarten der modernen japanischen Gesellschaft auseinander.
Damit traf er den Geschmack des aufstrebenden Regisseurs Hiroshi Teshigahara, der sich mit der Japanischen Neuen Welle identifizierte und mit den Konventionen des Kinos der vorherigen Generation brechen wollte.
Der Dritte im Bunde war der Komponist Tōru Takemitsu, der traditionelle japanische Klänge mit westlichen Instrumenten paarte und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für Filmmusik suchte. Sie sollte das Leinwandgeschehen nicht nur passiv begleiten, sondern die Filmsprache aktiv mitgestalten. Die langjährige Bekanntschaft der drei mündete in Teshigahares Debütfilm Pitfall und fand in ihrer zweiten Zusammenarbeit Die Frau in den Dünen eine unwahrscheinliche Perfektion.
Mit sardonischem Humor dokumentiert der Film die anfänglichen Fluchtversuche seines Protagonisten, der wie eine Ameise an den Hängen der Grube empor kraxelt und immer wieder von den unter ihm nachgebenden Sandmassen in die Tiefe gezogen wird.
Die Kamera von Hiroshi Segawa verleiht den Milliarden feiner Körner ein magisches Eigenleben: Mal streichelt der Sand über die Oberflächen, mal bäumt er sich wütend auf, manches Mal bricht er wie auf ein unhörbares Kommando lawinenartig weg. Heimlich schleicht er in die Hütte, bahnt sich seinen Weg unter die Kleidung und dringt selbst in die Trinkwassertonne ein.
Was zu Beginn noch meditativ wirkt, entwickelt schnell einen hypnotischen Sog. Der ungewöhnliche Score von Tōru Takemitsu steigert die dichte Atmosphäre noch zusätzlich: Die seltsamen Töne und die typisch japanischen Pausen zwischen den Takten erinnern an die musikalische Untermalung von Horror- oder Science-Fiction-Filmen und verstärken damit den Eindruck einer latent bedrohlichen, fremden Welt.
Im Zusammenspiel mit der fremdbestimmten Gefangenschaft des Protagonisten und dem erotisch aufgeladenen Zusammenleben mit der Hüttenbesitzerin erzeugt Die Frau in den Dünen viel Suspense. Allerdings hat er deutlich mehr zu bieten als vordergründige Spannung, das kafkaeske Szenario bietet uns ein ambivalent interpretierbares Zeichensystem an.
Nach den erfolglosen Fluchtversuchen sieht sich der Lehrer fortan dazu verdammt, den stetig hinabrieselnden Sand wegzuschaufeln, der die Hütte zu verschütten droht – eine alles diktierende Sisyphusarbeit, die sämtliche Bestandteile des zivilisatorischen Lebens verdrängt und ihn auf das pure körperliche Sein zurückwirft.
Neben dem bloßen Existenzialismus eröffnet Die Frau in den Dünen eine große Bandbreite an Deutungsmöglichkeiten. So verkörpert der Protagonist als Großstadtbewohner etwa einen mustergültigen Konsumenten, der sich in dieser Parabel zurück zum urtümlichen Mann entwickelt. Reduziert auf absolute Grundbedürfnisse – die Bewältigung einer konkreten, simplen Aufgabe durch körperliche Arbeit, Essen, Sex – erlangt der Lehrer eine asketische Reinheit abseits der modernen Konsumwelt.
Die Kritik scheint auch historisch bedingt: Zur Entstehungszeit des Films boomte die japanische Wirtschaft und öffnete sich dem Kapitalismus der westlichen Welt, was Kōbō Abe misstrauisch beobachtete. Zugleich schien der Autor im immer schnelleren Leben der jungen Industrienation einen gesellschaftlichen Wandel auszumachen, dem ein Stück weit das Menschsein verloren ging.
Nicht von ungefähr taucht die zivilisierte Welt außerhalb der Wüste nur während der Credits zu Beginn des Films auf: Untermalt von Verkehrslärm, begleiten Bilder von Fingerabdruckkarten und Ausweisdokumenten die Namen der Beteiligten.
Das betont einerseits, wie Menschen zu anonymem Verwaltungsmaterial werden und wirkt andererseits ironisch: Trotz dieser Registrierungen verschwinden Menschen einfach. Das Phänomen der Jōhatsu war hochgradig aktuell und offenbarte die tabuisierten Krisenthemen der japanischen Gesellschaft. Drei Jahre sollte Shôhei Imamura das Thema noch direkter in A Man Vanishes thematisieren.
Als Gegenentwurf zum anonymen Leben nach westlichem Standard lässt der Film die Zweckgemeinschaft der beiden Hüttenbewohner in einer einmalig inszenierten Liebesszene gipfeln. Die bis dato latente Erotik erruptiert letztlich wie der Sand um die Hütte; ähnlich wie in Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour (ebenfalls mit Hauptdarsteller Eiji Okada) besteht die Szene beinahe ausschließlich aus Nahaufnahmen einzelner Körperpartien. Einmal mehr drängt sich der Sand in den Vordergrund – die Kamera widmet dem feinen Puder auf der verschwitzten Haut der Liebhaber mehr Aufmerksamkeit als dem Akt selbst.
Erleben wir in Die Frau in den Dünen also eine Utopie? Ist die Abkehr vom westlichen Fortschritt wirklich die Lösung? Immerhin stellt Abe auch die Unsinnigkeit dieses auf das Wesentliche reduzierten Lebens heraus. Schon zu Beginn fragt der Lehrer die Frau:
„Schaufelst du, um zu überleben oder überlebst du, um zu schaufeln?“
Letztlich liegt die große Stärke von Teshigaharas Film und Abes Roman in der Vieldeutigkeit ihrer Parabel, die nicht nur auf ideologische Aussagen verzichtet, sondern nicht einmal konkrete Fragen stellt. Viel mehr werfen sie uns in einen phantasmagorischen Treibsand und vertrauen darauf, dass wir uns frei treten und aus dieser Erfahrung mitnehmen, was wir können.
Das Wagnis der drei Genies geht ganz und gar auf. Obwohl Die Frau in den Dünen de facto zweieinhalb Stunden radikales Kunstkino verkörpert, bleibt der Film immer ganz konkret und homogen. Abes parabelhafte Geschichte, Teshigaharas berauschende Bilder und Takemitsus unverwechselbare Musik formen einen Meilenstein der Kinogeschichte, für den jedes Superlativ angebracht ist.
★★★★★★
1960 – 1969
Die Sechziger Jahre zählen zu den revolutionärsten Jahrzehnten der Kinogeschichte. Mehrere Strömungen – die neuen Wellen – verschoben künstlerische Grenzen und modernisierten die Filmsprache. Viele Regisseure ließen die themen der vorherigen Generationen hinter sich und drehten freiere, gesellschaftskritischere Werke.
Japanische Neue Welle
Als die französische Nouvelle Vague die Filmsprache veränderte, inspirierte sie auch die Regisseure im fernen Japan. Diese brachen nun ebenfalls mit traditioneller Inszenierung und altbackener Themenwahl. Es folgten Arbeiten unterschiedlichster Genres, die sich deutlich gesellschaftskritischer gaben und dazu einer modernen, manchmal sogar radikalen Inszenierung bedienten.