Irreversibel

Ein Film von Gaspar Noé

Genre: Drama

 

 | Erscheinungsjahr: 2002

 | Jahrzehnt: 2000 - 2009

 | Produktionsland: Frankreich

 

Irreversibel ist nach wie vor der Skandalfilm dieses Jahrtausends. Dieser Ruf wird Gaspar Noés rückwärts erzähltem Meisterwerk jedoch nicht gerecht – zwar handelt es sich um einen drastischen Film für mündige Zuschauer, dabei setzt sich Irreversibel jedoch auf brillante Weise mit filmischer Gewalt auseinander.

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Filmkritik:

Irreversibel ist ein sogenannter Rape&Revenge-Film, der sich binnen weniger Stunden abspielt: Eine Frau wird vergewaltigt und schwer verprügelt, ihr Freund und ihr Ex-Freund sinnen auf Rache und hetzen auf der Suche nach dem Täter durch das nächtliche Paris.

Gaspar Noé zieht aus dem simplen Plot ein Maximum an Wirkung und übersetzt die Raserei der Protagonisten in eine filmische Tour de Force. Dabei stellt er unsere Sehgewohnheiten durch einen erzählerischen Clou auf den Kopf: Irreversibel beginnt mit dem Abspann, die Handlung wird rückwärts aufgerollt.

Mit diesem Modus Operandi knüpft Noé an mehrere Vorläufer an: Schon 1967 nutzt die tschechische Satire Happy End eine verkehrte Chronologie, populär wurde die Erzählweise jedoch erst durch das Theaterstück Betrayal des Literaturnobelpreisträgers Harold Pinter. Das Stück wurde 1983 verfilmt und hallte noch in François Ozons Ehedrama 5×2 nach. Am bekanntesten ist Christopher Nolans Memento, der eine Hälfte seines Plots rückwärts erzählt.

Die spezielle Narration macht bei allen vorgenannten Beispielen Sinn, doch nur in Irreversibel geht die Wirkung weit über den Inhalt hinaus. Die umgekehrte Chronologie bricht mit gewohnten Erzählprinzipien und fordert uns ständig neu heraus – ein wesentlicher Faktor für die Empörung, die Gaspar Noés zweites Werk ausgelöst hat.

Diese Empörung ist besonders ironisch, da Irreversibel zu den wenigen seriösen Vertretern des Rape&Revenge-Films zählt. Die Werke des Subgenres nutzen das namensgebende Prinzip von Ursache und Wirkung: Indem sie zu Filmbeginn barbarische Taten zeigen, stellen sie sich einen Freifahrtsschein aus. Dieser legitimiert den Rückfall in eine archaische Auge-um-Auge-Mentalität: Die Figuren dürfen blutige Rache üben und wir Zuschauer selbst exzessive Gewalt beklatschen.

Indem Rape&Revenge-Filme die Gegengewalt der Opfer zum reinigenden Vorgang umdeuten, der zu Seelenfrieden und Happy End führt, erzeugen sie eine absurde Doppelmoral. Sie propagieren erzreaktionäre Werte, zielen aber gleichzeitig auf die Schaulust des Publikums ab, indem sie sich – insbesondere im Bereich der B-Movies – auf Tabubrüche, nackte Haut und sexualisierte Gewalt ausrichten.

Irreversibel hält dieser Verlogenheit den Spiegel vor: Die chronologische Umkehr löst das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf, der Freifahrtsschein wird einkassiert. Der Beginn konfrontiert uns mit zwei in die Raserei getriebenen Männern und einer schockierenden Gewaltszene. Da wir den Auslöser noch nicht kennen, erleben wir Marcus und Pierre nicht als Vigilanten, sondern als Täter. Sie liefern ein Musterbeispiel für toxische Maskulinität, handeln blindwütig und destruktiv. Die sonst so positiv konnotierte Rache des Rape&Revenge-Films schlägt uns hier auf den Magen.

Irreversibel enthält uns aber nicht nur die übliche „Belohnung“ des Rape&Revenge-Subgenres vor, sondern spottet auch dem Gedanken der Erlösung: Der finale Gewaltakt zu Beginn des Films läuft völlig ins Leere. Die vermeintliche Rache trifft einen Unbeteiligten, der gesuchte Vergewaltiger steht unerkannt daneben. Dass auch diese Erkenntnis erst in der Mitte des Films kommt, wenn wir Tat und Täter erstmals zu sehen bekommen, belegt den Sinn und die Durchschlagskraft der umgekehrten Narration.

Dementsprechend unsinnig erscheint der 2019 angefertigte Straight Cut des Films, der die Szenen zurück in die richtige Reihenfolge bringt und dabei lediglich beweist, wie untrennbar Form und Inhalt miteinander verbunden sind. Die Erzählweise ist dem Plot immanent; der Straight Cut zerstört, was Irreversibel im Innersten zusammenhält.

Bei den Filmfestspielen von Cannes trieb Gaspar Noés Werk die Zuschauer schon zu Beginn der Vorstellung in Scharen aus dem Kino. Dabei führt die schonungslose Gewaltdarstellung jeden Vorwurf der Verherrlichung ad absurdum. Irreversibel ist schwer zu ertragen und richtet sich eindeutig an mündige Zuschauer, doch wie Noés Vorbild Pier Paolo Pasolini und dessen Skandalfilm Die 120 Tage von Sodom konfrontiert auch Irreversibel unsere mediale Konditionierung. Wir müssen den Umgang mit filmischer Gewalt neu lernen, weil sie hier nicht konsumierbar, sondern wirklich destruktiv ist.

Dabei fußt die Rekalibrierung medialer Gewalt nicht nur auf der klugen Erzählweise, sondern auch auf einer waghalsigen Inszenierung. Nach seinem radikalen, aber noch recht konventionell erzählten Spielfilmdebüt Menschenfeind fand Gaspar Noé vier Jahre später zu seinem charakteristischen Stil aus fließenden Kamerafahrten. Der weitestgehend unsichtbare (Digital-)Schnitt fügt hunderte Aufnahmen zu zwölf Sequenzen zusammen und erweckt so den Eindruck, Irreversibel wäre an einem Stück gedreht worden.

Dabei trägt die Kamera nachhaltig zur verstörenden Wirkung des Films bei, da sie regelrecht an die Emotionen der Protagonisten gekoppelt zu sein scheint. Insbesondere in der ersten Filmhälfte kanalisiert sie den Ausnahmezustand der Männer und schlingert derart delirierend durch das nächtliche Paris, das der Verdacht aufkommt, Noés Stammkameramann Benoît Debie hätte einen tollwütigen Kamerakran durch die Straßen getrieben. Der ungemütliche Score von Thomas Bangalter (Daft Punk) potenziert die Bildwirkung noch.

In der zweiten Filmhälfte beruhigt sich Irreversibel zunehmend und bewegt sich aus der höllischen Aggression zurück in einen Normalzustand menschlichen Zusammenlebens. Damit konterkariert der Film die Dramaturgie des Rape&Revenge-Films und entwickelt einen niederschmetternden Fatalismus. Obwohl wir uns mit fortschreitender Laufzeit immer weiter von der Gewalt entfernen, bleibt sie doch präsent und wirft einen Schatten auf die vertraute Zweisamkeit eines Paares. Die natürliche Intimität des damaligen Ehepaares Vincent Cassel und Monica Bellucci lässt das Schicksal ihrer Figuren umso bedrückender erscheinen.

Gaspar Noé ist ein Meisterwerk gelungen, das sich allen Maßstäben konventionellen Filmemachens enthebt, radikal inszeniert ist und filmische Gewalt neu definiert. Dass sich die letzten Bilder regelrecht atomar auflösen, spricht Bände: Am Ende verstrahlt Irreversibel alles in Reichweite: seine Figuren, uns Zuschauer, das Medium Film.

★★★★★★

Drama

Der Dramabegriff dient als Auffangbecken für Filme, die sich keinem spezifischerem Genre zuordnen lassen. Dementsprechend viele Schattierungen ergeben sich: vom Sozial- über das Gesellschaftsdrama, das Melodram und die Tragikomödie. Die Gemeinsamkeiten dieser Subgenres liegen in realistischen, konfliktreichen Szenarien und einer Konzentration auf die Figuren.