Jerichow

Ein Film von Christian Petzold

Genre: Drama

 | Strömung: Berliner Schule

 | Erscheinungsjahr: 2008

 | Jahrzehnt: 2000 - 2009

 | Produktionsland: Deutschland

 

Christian Petzolds Jerichow verlagert den Film Noir in die ostdeutsche Provinz. Nach Art der Berliner Schule serviert Petzold ein äußerlich sprödes und innerlich fesselndes Werk, das lediglich drei Figuren benötigt.

Copyright

Filmkritik:

Das Fundament für die Handlung stammt aus dem schon viele Male verfilmten Roman Wenn der Postmann zweimal klingelt von James M. Cain. 1981 erschien der gleichnamige Neo-Noir mit Jack Nicholson, 1943 der neorealistischen Klassiker Ossessione und 1946 der Film Noir Im Netz der Leidenschaften.

Wie in den „Vorgängern“ schildert Jerichow eine Amour fou. Auch hier findet ein Herumtreiber eine Anstellung bei einem freundlichen Unternehmer und verguckt sich in die schöne Frau seines Chefs, was in einer Affäre und einem Mordplan gipfelt.

Nun erzählt Christian Petzold diese Geschichte zum vierten Mal und umschifft dennoch mühelos den Eindruck, es handle sich um eine bloße Kopie der vorherigen Filme. Jerichow entwickelt eine eigenständige Interpretation des Stoffes und übertrifft die beiden amerikanischen Versionen.

Der Vergleich zu den beiden Film Noirs ist interessant, weil die Inszenierung der Berliner Schule das krasse Gegenteil zur Schwarze Serie bildet. Diese übersteigert Figuren und Handlungsort auf ein Höchstmaß und baut so eine finstere Parallelwelt auf; der deutschen Strömung wird hingegen oft (und manchmal zu Recht) vorgeworfen, sie sei zu spröde und realitätsnah.

Jerichow beweist, welche Stärken der Berliner Schule innewohnen. Den Übersteigerungen des Film Noir setzt Christian Petzold eine größtmögliche Reduktion entgegen. Sein Film besticht durch eine hochgradig ökonomische Erzählweise. Die Dialoge enthalten kein Wort zu viel, jedes Bild ist sorgsam gewählt, jede Szene besitzt Gewicht.

Realitätsnah ist das Geschehen nur auf den ersten Blick. Jerichow mag Alltagsszenen zeigen, Petzold erzeugt jedoch eine große Dramatik im Kleinen: Erste Begegnungen, zweite Blicke, fast unsichtbare Gesten. Inmitten der vordergründigen Normalität verstecken die Figuren ihren permanenten Ausnahmezustand. Im Lauf des Films fällt es ihnen immer schwerer, die Fassung zu bewahren. Die schleichende Eskalation der Gefühlswelten sorgt für Suspense.

Hinter der Fassade des Alltäglichen offenbart Petzold zahlreiche Geschichten. Während wir Zeuge der Haupthandlung werden, stoßen wir auf Fragmente anderer Erzählungen. Thomas wurde unehrenhaft aus dem Armeedienst entlassen, Laura hat in ihrer Vergangenheit einen immensen Schuldenberg angehäuft. Jerichow reißt diese Geschichten nur an und übergibt sie uns noch im Rohzustand.

Mit derartigen Geheimnissen ausgestattet, erheben sich die Figuren über die Gegenwart des Films. Sie sind ein Produkt ihrer Vergangenheit mit für uns unbekannten Gleichungen; wir können nie sicher sein, zu welchen Entscheidungen im Heute sie die verborgenen Geschichten von gestern führen.

Den Schauspielern gelingt der Spagat zwischen dem äußeren Anschein und den inneren Drängen ausgezeichnet. Statt offen zu schauspielern, agieren Petzolds Stammdarsteller Nina Hoss und Benno Fürmann zurückhaltend. Ihr Innenleben erkennen wir an ihrer Körperspannung statt der Mimik.

Die größte Entdeckung des Films ist Hilmi Sözer, dessen mitreißende Darstellung jede Erinnerung an frühere Blödelkomödien wegwischt. Als Unternehmer Ali bespielt Sözer die gesamte Palette von Emotionen: Freude, Eifersucht, Kontrollzwang, Wut und Verletzlichkeit. Zwischen den kühlen Rollen der anderen beiden Darsteller besetzt er das emotionale Zentrum.

Auch die letzte Szene des Films gehört Sözer. Im memorablen Finale läuft Jerichow zur Höchstform auf und schließt seine Geschichte ab. Und wieder stellt der Schluss bereits die nächste Erzählung in den Raum.

★★★★☆☆

Berliner Schule

Die Berliner Schule ist keine historisch gewachsene Strömung, sondern dient als Label für die Arbeiten einer losen, voneinander unabhängigen Gruppe deutscher Regisseure, die an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ausgebildet wurden. Den Werken der Berliner Schule ist gemein, dass sie ihre Geschichten inmitten alltäglicher Szenarien platzieren und mit einer eher distanzierten Inszenierung konventionelle Erzählmuster unterlaufen.