Der Überfall auf den Postzug

Ein Film von Roberto Farias

Genre: Kriminalfilm

 

 | Erscheinungsjahr: 1962

 | Jahrzehnt: 1960 - 1969

 | Produktionsland: Brasilien

 

In Der Überfall auf den Postzug treffen fatalistischer Kriminalfilm und existenzielles Drama aufeinander: Der brasilianische Klassiker schildert die Nachwehen eines aufsehenerregenden Verbrechens als packende Studie über die Missstände in den Favelas.

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Filmkritik:

Der Film orientiert sich an einem realen Verbrechen und startet mit dem titelgebenden Überfall auf die Lohngelder eines Postzuges. Polizei und Presse vermuten eine internationale Bande hinter dem Diebstahl, während wir mehr über die Täter erfahren: Sie leben in prekären Verhältnissen in einer Favela von Rio de Janeiro.

Bandenboss Tião Medonho weiß, dass niemand das erbeutete Geld ausgeben kann, ohne aufzufallen, und ordnet eine Sperrfrist an: Ein Jahr lang sollen die Räuber weiterleben wie bisher. Wer davon abweicht und die Gruppe gefährdet, muss sterben. Damit ist das Szenario von Der Überfall auf den Postzug etabliert: Die Ermittlungen der Polizei bedrohen die Verbrecher von außen, die Verlockungen des Reichtums von innen.

Der Film zeigt im Folgenden den Werdegang der einzelnen Täter und richtet seinen Fokus auf Medonho, der sich als spannende Figur erweist. Darsteller Eliezer Gomes verleiht ihm mit seiner rohen Energie das Charisma eines Raubtiers; hinter der Brutalität verbirgt sich allerdings ein Familienmensch, den die Sehnsucht nach besseren Zeiten antreibt.

In vielerlei Hinsicht nimmt Der Überfall auf den Postzug Bezug auf den Film Noir: Anleihen finden sich sowohl in der Schwarz-Weiß-Ästhetik als auch in den inhaltlichen Motiven. Wie in der Schwarzen Serie haftet das Verbrechen wie ein Fluch an den Protagonisten; die geraubten Geldbündel dienen als symbolischer Träger der Schuld und erweisen sich als Bürde.

Die Freude über den geglückten Coup weicht Misstrauen und Paranoia. Die Beute muss fortan versteckt und beschützt werden. Sie besitzt keinen Nutzen, sondern entwickelt sich zur dauerhaften Last. Weil auch der Druck durch die Polizei zunimmt, etabliert der Film einen präsenten Fatalismus und zieht daraus dauerhaftes Suspense.

Trotz seines typischen Szenarios unterscheidet sich Der Überfall auf den Postzug von ähnlich gelagerten Kriminalfilmen. Jean-Pierre Melville oder Michael Mann nähern sich dem Sujet romantisch: Bei ihnen funktioniert das Verbrechen immer auch als Spiel mit dem Schicksal, dem die Gangster sich mit Ehre und Ethos verpflichten. Bei Roberto Farias herrscht eine völlig andere Weltsicht: Hier ist das Verbrechen kein Spiel für Könner, sondern eine existenzielle Notwendigkeit.

Anfang und Ende von Farias‘ Werk bewegen sich auf dem typischen Terrain des Kriminalfilms. Im Mittelteil entwickelt sich Der Überfall auf den Postzug zu einer Milieustudie mit neorealistischem Einschlag. Er nutzt Originalschauplätze und zeigt die prekären Verhältnisse in der Favela: ein Leben in Wohnungen aus Blech und Sperrholz, im Mief aus schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs, Alkoholismus und kollektiver Perspektivlosigkeit.

Der in diesem Schmutz lebende Tião Medonho kann nichts weiter tun, als sich durch ein Verbrechen zu verdammen, um seiner Frau ein anständiges Leben und seinen zwei Kindern eine Zukunft zu ermöglichen. Auf ehrlichem Weg kommt niemand heraus aus den Slums, schon gar nicht als Schwarzer.

Explizit benennt Farias den Rassismus in Brasilien: Der einzige weiße Gangster der Bande kann sich einen protzigen Wagen zulegen, ohne aufzufallen; für seine Kollegen ist maximal ein gebraucht gekaufter Kühlschrank drin, weil die Polizei bei ihresgleichen ganz genau hinschaut.

Roberto Farias veranschaulicht, dass die Täter zuallererst Opfer sind: Dem Verbrechen der Gangster geht das soziale Verbrechen der Gesellschaft voraus. Folgerichtig findet das Finale des Films keine moralische Auflösung, Schuld und Sühne laufen aneinander vorbei. Zurück bleibt eine tiefe existenzielle Verzweiflung.

★★★★☆☆

1960 – 1969

Die Sechziger Jahre zählen zu den revolutionärsten Jahrzehnten der Kinogeschichte. Mehrere Strömungen – die neuen Wellen – verschoben künstlerische Grenzen und modernisierten die Filmsprache. Viele Regisseure ließen die themen der vorherigen Generationen hinter sich und drehten freiere, gesellschaftskritischere Werke.

Kriminalfilm

Der Kriminalfilm zählt aufgrund unterschiedlichster Ausprägungen zu den breitesten Genres. Die sogenannten Whodunits beschäftigen sich mit der Täterfindung in einem einzelnen Fall; ebenso zählen die fatalistischen Detektivgeschichten des Film Noir zum Genre. Nicht zu vergessen sind Werke aus der gegensätzlichen Perspektive: Die Heist- und Gangsterfilme machen einen wesentlichen Teil des Krimigenres aus.