Tatort Hauptbahnhof Kairo

Ein Film von Youssef Chahine

Genre: Drama

 

 | Erscheinungsjahr: 1958

 | Jahrzehnt: 1950 - 1959

 | Produktionsland: Ägypten

 

1958 hob Tatort Hauptbahnhof Kairo das afrikanisch-arabische Kino auf ein neues Level. Der junge Regisseur Youssef Chahine brach radikal mit den Konventionen und schuf den größten ägyptischen Klassiker. Er orientierte sich an westlichen Standards und verband den Neorealismus mit dem Film Noir.

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Filmkritik:

Der Film spielt durchgehend auf dem Gebiet des Kairoer Hauptbahnhofs, wo Chahine mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft. Im Zentrum steht der vom Regisseur selbst gespielte Qinawi. Eine geistige Einschränkung und eine Gehbehinderung verdammen den Zeitungsverkäufer selbst unter den mittellosen Tagelöhnern zum Außenseiter.

Zu Qinawis Einsamkeit gesellt sich die unerfüllte Liebe zur schönen Limonadenverkäuferin Hanuma, die kurz vor der Heirat mit dem Transportarbeiter Abu Siri steht. Dieser kämpft wiederum für bessere Arbeitsbedingungen und versucht, eine Gewerkschaft auf die Beine zu stellen.

Auch aufgrund der 74 Minuten kurzen Laufzeit bleibt die Figurenzeichnung skizzenhaft, die moderne Motivpalette überzeugt hingegen. Tatort Hauptbahnhof Kairo schildert die Lebenswirklichkeit der Unterschicht, zeigt den Kampf um Arbeiterrechte und bekennt sich zum Feminismus. Die Tendenz zum Sozialdrama paart er mit blutiger Gewalt und sommerlicher Erotik.

Dabei kommt dem Hauptbahnhof eine besondere Bedeutung zu. Wie schon das Vorwort andeutet, gibt es kaum einen universelleren Platz – hier treffen Menschen aller Gesellschaftsschichten aufeinander. Als kleine Welt innerhalb der großen stellt der Bahnhof einen Querschnitt Ägyptens dar und beinhaltet damit auch eine politische Komponente.

Einen derartigen Reichtum an Motiven kannte das ägyptische Kino seinerzeit nicht. Chahine hatte zwei Jahre lang Regie und Schauspiel in den Vereinigten Staaten studiert und wurde vom amerikanischen und europäischen Kino maßgeblich beeinflusst. Zurück in seiner Heimat, wollte sich der Regisseur nicht mit seichten Unterhaltungsfilmen abfinden und arbeitete stattdessen daran, in Ägypten den Geist des Weltkinos zu etablieren.

Dementsprechend orientiert sich der Regisseur deutlich an seinen Vorbildern. Vor allem die erste Filmhälfte von Tatort Hauptbahnhof Kairo erinnert an die Klassiker des Italienischen Neorealismus. Chahine drehte an Originalschauplätzen und beobachtet das alltägliche Treiben auf Basis einer unaufdringlichen Inszenierung. Dabei interessiert er sich vor allem für die Lebensumstände der Unterschicht.

Die neorealistische Milieuzeichnung kombiniert der Regisseur mit den erzählerischen Maßstäben amerikanischer Couleur. Die zunächst nebeneinander verlaufenden Handlungsstränge kulminieren in der zweiten Filmhälfte und erzeugen überraschende Synergien. Tatort Hauptbahnhof Kairo gibt seine Zurückhaltung auf und setzt auf eine effektive Melodramatik, die den Tonfall kippen lässt: Sex und Gewalt halten Einzug, die Bilder tendieren zunehmend ins Düstere. Spätestens im Finale wirkt Chahines Werk aufgrund der starken Kontraste wie ein Film Noir.

Die Veröffentlichung von Tatort Hauptbahnhof Kairo sorgte für ein Erdbeben. Nationale und internationale Kritiker zeigten sich begeistert, doch das Publikum missbilligte Chahines Arbeit. Obwohl der Film auch Liebesglück, Ehrgeiz und Kameradschaft zeigt, wurde er wegen seiner unverblümten Darstellung der ägyptischen Lebensumstände gerügt. Die Politik reagierte prompt und zig Chahines Werk für 20 Jahre aus dem Verkehr, weil es die Nation in schlechtem Licht erscheinen lasse.

Inzwischen hat sich die Ansicht längst gewandelt: Tatort Hauptbahnhof Kairo wird als der modernste arabische Film seiner Zeit anerkannt. Youssef Chahine gilt nach seiner 50-jährigen Karriere als Vater des ägyptischen Kinos.

★★★★★☆

1950 – 1959

In den Fünfziger Jahren befanden sich die weltweiten Studiosysteme auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft. In den Vereinigten Staaten, Japan und Frankreich versammelten die Studios eine ungeheure Menge an Talent und veröffentlichten dank des geballten Produktionsniveaus zahllose Meisterwerke. Einen gewichtigen Anteil daran ist auch den Regisseuren zuzuschreiben, die sich innerhalb des Systems Freiheiten erkämpften und so ihr Potenzial ausspielen konnten.

Drama

Der Dramabegriff dient als Auffangbecken für Filme, die sich keinem spezifischerem Genre zuordnen lassen. Dementsprechend viele Schattierungen ergeben sich: vom Sozial- über das Gesellschaftsdrama, das Melodram und die Tragikomödie. Die Gemeinsamkeiten dieser Subgenres liegen in realistischen, konfliktreichen Szenarien und einer Konzentration auf die Figuren.