Toms Top 7

Mockumentaries

Die neue Rubrik

Willkommen in einer neuen Rubrik auf Filmsucht.org – wie bereits in meinem Ausblick auf das Jahr 2019 angekündigt, möchte ich die großen Bestenlisten zu Jahrzehnten und Genres ergänzen. Fortan veröffentliche ich unter Toms Top 7 kurze, ganz und gar subjektiv gehaltene Listen zu spezifischen Themen.

Heute starten wir mit einer besonderen filmischen Spielart – der Mockumentary.

Was sind Mockumentaries?

Das Wort Mockumentary setzt sich aus zwei englischen Begriffen zusammen – aus Documentary, also dem Dokumentarfilm, sowie dem Verb (to) mock, das „vortäuschen“ oder „verspotten“ bedeutet. Mockumentaries sind also fiktive Filme, die vortäuschen, reale Ereignisse zu dokumentieren.

Inzwischen lassen sich zwei Spielarten der Mockumentary unterscheiden: Insbesondere die frühen Vertreter arbeiteten mit subtilen Mitteln daran, so viele Zuschauer wie möglich zu täuschen. Sie wollten ernst genommen werden und nutzten das Grundvertrauen des Publikums für eine moralische Irreführung: Stück für Stück konfrontieren die Mockumentary die Zuschauer, um Vorurteile auszutreiben und sie zur Reflexion zu zwingen.

Die subversive Veranlagung dieser Gattung ist inzwischen kaum mehr zu finden. Stattdessen setzen aktuelle Mockumentaries auf Ironie und spielen ganz offen mit ihrer Metaebene. Den Ansatz, durch eine hyperrealistische Aufmachung unser Abstraktionsvermögen zu behindern, machen sich inzwischen vor allem Horrorfilme zunutze – sogenannte Found Footage-Werke.

Die Anfänge der Gattung

Die Idee, Fiktion und Realität kollidieren zu lassen, gab es bereits in der Zeit des Radios. Der berühmteste Versuch stammt vom späteren Meisterregisseur Orson Welles, der 1938 H.G. Welles‘ Roman Krieg der Welten vertonte und dabei auf die üblichen Konventionen des Hörspiels verzichtete. Stattdessen schilderte er die Invasion der Aliens vom Mars als realistische Nachrichten-Sondersendung – tausende Menschen fielen darauf herein und wähnten sich in einem interplanetarischen Krieg.

Im Zeitalter des Fernsehens tat sich vor allem die BBC hervor und lieferte ab den Sechziger Jahren regelmäßige Highlights. Bereits 1957 sorgte ein dreiminütiger Einspieler über die Spaghetti-Ernte für Aufsehen.

Die BBC besitzt in puncto Mockumentaries eine langjährige Tradition und verdankt einen Großteil seiner Meriten dem damaligen Jungspund Peter Watkins, der der große Meister dieses Formats ist. In Culloden inszeniert der Brite eine täuschend echt wirkende „Live“-Doku über eine große Schlacht – die allerdings 1746 stattfand. Kein Bestenlistenmaterial, aber eine interessante Herangehensweise an eine Dokumentation.

Erwähnenswerte Filme

Deutlich unterhaltsamer ist da schon der französische Vertreter Kubrick, Nixon und der Mann im Mond. Die scheinheilige Doku stellt die Vermutung an, die erste Mondlandung sei ein Fake der NASA gewesen und von Stanley Kubrick inszeniert worden. Dabei sorgen vor allem die clever zusammengeschnittenen Interviewsequenzen mit echten Politikern für die Illusion, während einige kaum versteckte Anspielungen das Ganze sukzessive auffliegen lassen.

Nachdem Orson Welles 1938 mit seinem Radiospiel Krieg der Welten für Furore sorgte, schloss sich der Kreis am Ende seiner Karriere wieder, als er F wie Fälschung drehte. Der Film wirkt wie eine essayistische Doku über einen Kunstfälscher, entpuppt sich jedoch einmal mehr als Lausbubenstreich des Meisterregisseurs.

Auch in Deutschland sorgte eine Mockumentary für Schlagzeilen: 1970 lief im ARD die Sendung Das Millionenspiel. Diese „Spielshow“ schilderte eine realistische Menschenjagd auf einen Kandidaten, der sieben Tage überleben muss, um ein Preisgeld zu gewinnen. Damit nahm der Film nicht nur das trashige Schwarzenegger-Vehikel Running Man und das Reality-TV vorweg, sondern animierte auch zahlreiche Zuschauer dazu, sich für kommende Sendungen als Kandidat oder Jäger zu bewerben.

Die konsequenteste Mockumentary ist wohl Casey Afflecks I’m Still Here. Hier opferte Joaquin Phoenix zwei Jahre seines Lebens und seinen Ruf, als er einen Rückfall in die Drogensucht und das Ende seiner Schauspielkarriere simulierte. Freunde, Kollegen und die Presse fielen darauf herein. Der Film überzeugt zwar nicht vollends, gibt jedoch einen interessanten Einblick hinter die Kulissen des Startums.

Andere Mockumentaries spielen deutlich offensichtlicher mit der Tatsache, dass sie keine echten Geschehnisse abbilden. Sobald bekannte Darsteller auftreten, liegt der Fall natürlich klar. Dennoch lassen sich so unterhaltsame Filme produzieren, wie die Politsatire Bob Roberts mit Tim Robbins oder Woody Allens klamaukige Komödie Zelig beweisen. Auch This Is Spinal Tap interessiert sich mehr für Unterhaltung als für die Täuschung des Publikums. Die vermeintliche Doku begleitet eine fiktive Glamrockband, der ständig die Schlagzeuger wegsterben, und zieht nebenbei die Musikindustrie durch den Kakao.

Bei Mockumentaries im Horrorgenre spielt Glaubwürdigkeit ohnehin eine untergeordnete Rolle. Als Doku über eine Vampir-WG schert sich das neuseeländische Werk 5 Zimmer Küche Sarg daher überhaupt nicht darum und setzt lieber auf Klamauk. Behind The Mask begleitet einen typischen Horrorfilmkiller bei der Arbeit und spielt dabei mit den Meta-Ebenen des Genres. Doch auch ernsthafte Horrorfilme nutzen die Spielart der Mockumentary, oft in Form des Found Footage-Films: Paranormal Activity und [Rec] sind da zu nennen, besonders letzterer zu empfehlen.

Das soll es mit dem Vorgeplänkel gewesen sein. Stürzen wir uns nun in die Top 7 der Mockumentaries:

Platz 7: Cloverfield

(Matt Reeves | USA | 2008)

Filmszene aus Cloverfield

Die Wahl zwischen Cloverfield und [Rec] war knapp und fiel letztlich zugunsten von Ersterem aus, weil er das immersivere Filmerlebnis bietet. Der Film von Matt Reeves beginnt mit Alltagsszenen einer Geburtstagsparty, gefilmt durch die Linse einer zu diesem Anlass herumgereichten Kamera. Doch dann erhält New York Besuch von einem hochhaushohen Weltraummonster, das die Stadt in Schutt und Asche legt und die Protagonisten durch die Straßen treibt. Der nicht sonderlich kreative Plot gerät aufgrund der fesselnden Inszenierung schnell zur Nebensache: Da die Figuren das historische Ereignis mit der Kamera einfangen, erleben wir ein oft verwackeltes, aber eben auch mitreißendes Abenteuer – wir können uns nie in die sichere Distanz zurückziehen, sondern stecken mitten im Geschehen.

Platz 6: Woody, der Unglücksrabe

(Woody Allen | USA | 1969)

Filmszene aus Woody, der Unglücksrabe

Der Beginn einer großen Karriere: Für seinen Debütfilm Woody, der Unglücksrabe nutzte Woody Allen die Form der Mockumentary. Als angeblicher Dokumentarfilm schildert sein Werk die Lebensgeschichte des Protagonisten Virgil Starkwell, der gerade zum „Verbrecher des Jahres“ gekürt, aber auch zu 800 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Woody, der Unglücksrabe macht nicht wirklich konsequent von seiner besonderen Form Gebrauch: Er nutzt die Mockumentary vor allem als äußeren Rahmen für eine lose, episodenhafte Erzählweise, die es ihm ermöglicht, das Geschehen auf Situationskomik und verbale Scharmützel zu konzentrieren, ohne sich um eine zusammenhängende Geschichte bemühen zu müssen.

Platz 5: Series 7

(Daniel Minahan | USA | 2001)

Filmszene aus Series 7

Die großartige Mockumentary Series 7 versetzt uns in eine nur minimal überspitzte Version des Reality-TVs: Wir erleben eine Folge aus der siebten Staffel von The Contenders, einer unterhaltsamen Show für die ganze Familie: Hier erhalten sechs zufällig ausgeloste Kandidaten die Aufgabe, sich gegenseitig umzubringen – der letzte noch lebende Kandidat gewinnt. Seit Wochen ungeschlagen: die hochschwangere Hausfrau Dawn. Daniel Minahan inszeniert seine intelligente Satire im typischen, oberflächlich-weichgespülten Stil des Reality-TV, mit pseudodramatischer Musik und vordergründig gefühlvollen, aber eigentlich vollkommen zynischen Interviews. Damit hält er dieser Unart des Unterhaltungsfernsehens effektvoll den Spiegel vor.

Platz 4: Blair Witch Project

(Daniel Myrick, Eduardo Sánchez | USA | 1999)

Filmszene aus Blair Witch Project

1999 avancierte die Billigproduktion Blair Witch Project zum Überraschungserfolg und zählt zu den populärsten Mockumentaries. Der Horrorfilm kommt im Gewand einer Dokumentation über einen Hexenwald daher, in dem drei Studenten gruselige Dinge erleben. An der panisch geführten, wackligen Handkamera scheiden sich seit jeher die Geister – wir bekommen in den Spannungsszenen wenig zu sehen, der Schrecken entsteht nur indirekt.

Gerade aus der budgetbedingten Reduktion zieht der Film seine Wirkung: Die rohen Bilder negieren die Ästhetik und die damit verbundene Sicherheit eines gewöhnlichen Spielfilms, die subjektive Kamera lässt uns keinen Rückzugsraum – wir erleben den Horrortrip der Protagonisten nicht aus der sicheren Distanz, sondern als einer von ihnen.

Platz 3: The War Game

(Peter Watkins | Großbritannien | 1967)

Filmszene aus The War Game

Platz 3 geht an den Meister der Mockumentary, Peter Watkins. The War Game beschreibt die Auswirkungen eines Atomkrieges auf Großbritannien derart drastisch, dass die produzierende BBC den Film 20 Jahre lang unter Verschluss hielt. Die Fernsehanstalt hatte eine konventionelle Dokumentation erwartet und erhielt ein filmisches Inferno: Neben den beklemmenden Bildern zeichnet sich die Arbeit von Peter Watkins vor allem durch eine große intellektuelle Schärfe aus, die den Widersinn atomarer Waffen nachhaltig herausstellt. Damit bietet The War Game eine nach wie vor schockierende Filmerfahrung und verdeutlicht, wie effektvoll der Stil einer Mockumentary genutzt werden kann.

Platz 2: Strafpark – Punishment Park

(Peter Watkins | USA | 1971)

Filmszene aus Strafpark - Punishment Park

Und noch mal Peter Watkins: Punishment Park ist ein Höhepunkt subversiven Filmemachens. Watkins kanalisiert die Wut der Vietnam-Ära in eine Anklage gegen staatlichen Machtmissbrauch. Durch den Verzicht auf die Konventionen des Spielfilms entfaltet seine politische Parabel eine enorme Wucht und spricht uns gleichermaßen auf einer intellektuellen wie auf einer emotionalen Ebene an. Aufgrund der universellen Themen und der effektvollen Inszenierung hält sich Punishment Park zeitlos; auch Watkins‘ nebenher stattfindende Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit medialer Objektivität ist heute aktueller denn je.

Platz 1: Mann beißt Hund

(Rémy Belvaux, Benoît Poelvoorde, André Bonzel | Belgien | 1992)

Filmszene aus Mann beißt Hund

Der erste Platz für die beste Mockumentary geht an Mann beißt Hund. Der belgische Skandalfilm begleitet einen gewohnheitsmäßigen Mörder durch seinen Alltag. Anhand der dokumentarischen Aufmachung bindet uns die Satire eng an den Protagonisten (brillant: Benoît Poelvoorde), der sich als geborener Selbstdarsteller erweist und seine Morde mit Charme und Witz auflockert. Der schwarze Humor bleibt uns aufgrund des drastischen Geschehens regelmäßig im Halse stecken, wodurch Mann beißt Hund wirkungsvoll unsere Sensationslust spiegelt und belegt, wie einfach sich unser moralischer Kompass durch mediale Impulse unterwandern und verschieben lässt. Mit einfachsten Mitteln gelang den drei Beteiligten ein subversives Meisterwerk.

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