Elf Uhr nachts

Ein Film von Jean-Luc Godard

 | Strömung: Nouvelle Vague

 | Erscheinungsjahr: 1965

 | Jahrzehnt: 1960 - 1969

 | Produktionsland: Frankreich

 

Fünf Jahre nach seinem fulminanten Debüt drehte der Autorenfilmer Jean-Luc Godard mit Elf Uhr nachts bereits sein zehntes Werk. Im Stile eines Road Movies führt Godard sein Publikum durch zahllose comichaft überspitzte Genres und gab später an, mit diesem Film seine erste, von ihm selbst als „romantisch“ bezeichnete Phase seiner Karriere abgeschlossen zu haben.

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Filmkritik:

Angefangen bei seinem bemerkenswerten Debüt mit Außer Atem, erarbeitete sich der Franzose eine eigene Filmsprache und befreite seine Werke von den Fesseln der Erzählkinos, löste sich von festen Narrativen und gängigen Inszenierungsregeln. Verhaftet blieb Godard jedoch seiner Liebe für amerikanisches Kino und dessen Genres. Er baute – ähnlich wie einige Jahrzehnte später Quentin Tarantino – dessen Motive und Formeln in seine eigene Art von Kino ein.

In Elf Uhr nachts trieb der umtriebige Autorenfilmer dieses Verfahren auf die Spitze und destillierte gewissermaßen die Essenz seines bisherigen Schaffens in einem Film; eine Art Best-of des Kinos, so wie Godard es versteht. Lose auf einem Kriminalroman basierend, aber mit gewohnt viel Improvisation gedreht, schildert der Regisseur eine Gangsterballade a la Bonnie und Clyde: Der vom modernen Leben gelangweilte Ferdinand und die junge Marianne lassen die Konsumgesellschaft hinter sich und flüchten in die „Freiheit“, kommen dabei jedoch auch mit dem Gesetz in Konflikt.

Doch der vordergründige Plot von Elf Uhr nachts dient Godard lediglich als Aufhänger, um seine typischen Themen verhandeln zu können: Die Bedeutung von Freiheit und die Suche nach ihr, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe, das Wesen unserer kapitalistischen modernen Konsumgesellschaft und letztlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Darüber hinaus nutzt Jean-Luc Godard die Gestaltungsmöglichkeiten dieses episodenhaften Roadmovies, um alle seine Lieblingsgenres zu verbauen – Gesangsszenen folgen auf Slapstick-Schlägereien, abgehobene philosophische Überlegungen auf platte melodramatische Beziehungsstreitigkeiten.

Dadurch entsteht ein seltsamer Kontrast: Einerseits wirkt Elf Uhr nachts hochgradig artifiziell, scheint ausschließlich aus Formeln und Codes zu bestehen und mit seiner referenziellen Ebene zu spielen, doch gleichzeitig verschreibt sich Godard hier auch einem konsequenten Existenzialismus, lässt die rudimentäre Story immer mal wieder links liegen und seine Figuren im Nichtstun versinken.

Die Abkehr von klassischen Erzählformen bedeutet jedoch auch, dass kein ausgeprägter roter Faden oder ein Spannungsbogen den Zuschauer führt und bisweilen der Eindruck entsteht, der Film schlingere führungslos von Szene zu Szene. Gleichzeitig ermöglicht diese Freiheit auch Ideen, die in einem konventionellen Werk nicht funktionieren würden; als Beispiel sei eine Szene vom Anfang des Films genannt, in der die Menschen auf einer Party ausschließlich in Werbebotschaften sprechen, statt echte Unterhaltungen zu führen – ein wunderbarer metaphorischer Seitenhieb auf uns Konsumbürger!

Nicht alle Manierismen von Elf Uhr nachts erweisen sich als derart treffsicher oder wirkungsvoll, doch die Inkohärenz des Films wird durch die abstruse Welt, die Godard zusammen mit seinem Stammkameramann Raoul Coutard mit großartigen Cinemascope-Bildern erschafft, gemildert: Sie erweckt den Eindruck einer Verrücktheit, zwischen der die beiden Hauptfiguren noch am normalsten, am menschlichsten wirken. Dies ist auch ein Verdienst der beiden Lieblingsdarsteller des Franzosen: Jean-Paul Belmondo und Anna Karina gelingt es, zwischen den Genreversatzstücken und Codes den Kern ihrer Figuren zu wahren, statt sich zwischen den Meta-Ebenen zu verlieren.

Überdies bieten die beiden höchst unterschiedlichen Figuren eine Interpretation an, die mir gut gefällt: Es wäre durchaus möglich, dass Belmondos zu Beginn sorgenfreie Figur, in Godards Weltsicht sicherlich veranlasst durch die moderne Gesellschaft, eine dissoziative Persönlichkeitsstörung entwickelt, die sich in Form von Anna Karinas fast schon selbstzerstörerischen Figur manifestiert und ihn aus allem ausbrechen lässt.

Elf Uhr nachts stellt den größtmöglichen Steigerungspunkt von Godards Vorstellung von Kino dar: Sein Werk ist verspielt, prätentiös und sogar ziemlich kindisch, beweist aber auch Godards Glauben an die Magie eines Films. Jedes Bild scheint für die große Kinoleinwand gemacht zu sein. Es erweckt den Anschein, Godard hätte gleich mehrere Filme in diesem verwoben. Müsste man einem Außerirdischen zeigen, was die Menschheit Kino nennt, Elf Uhr nachts böte das perfekte Anschauungsmaterial.

★★★★☆☆

Jean-Luc Godard

Mit seinem Debütfilm Außer Atem schrieb Jean-Luc Godard Kinogeschichte und setzte die Nouvelle Vague in Gang. Der ehemalige Filmkritiker prägte das Medium Film nachhaltig: Seine postmoderne Erzählweise und innovativen Inszenierungen, seine beißende Gesellschaftskritik und Essayfilme wurden bewundert, diskutiert und kopiert. Allein in den Sechziger Jahren drehte Godard 15 Werke, die inzwischen fest zum Kanon der Filmgeschichte gehören.

Nouvelle Vague

Die Nouvelle Vague wischte die altmodischen “Filme der Väter” beiseite und entwickelte das moderne Kino. Erstmals beschäftigten sich Filme selbstreferenziell mit sich selbst, anstatt lediglich Geschichten mit Bildern zu erzählen. Mit der Generalüberholung von Inszenierung, Schnitt und Erzählweise legte die Nouvelle Vague die Grundlagen unserer heutigen postmodernen Filme, Musikvideos und Werbespots.