Das große Fressen

Ein Film von Marco Ferreri

Genre: DramaKomödie

 

 | Erscheinungsjahr: 1973

 | Jahrzehnt: 1970 - 1979

 | Produktionsland: FrankreichItalien

 

Das große Fressen sorgte bei den Filmfestspielen in Cannes für Kontroversen und zählt zu den populärsten Skandalfilmen der Siebziger Jahre. Im Gegensatz zu vielen ähnlich gelagerten Werken seiner Ära hat Ferreris Tragikomödie bis heute nicht an Relevanz eingebüßt – seine Kritik an der Konsumkultur ist aktueller denn je.

Copyright

Dies ist eine Wunschkritik der Abonnnten von FilmsuchtPLUS.

Wenn du auch regelmäßig über kommende Kritiken abstimmen möchtest, kannst du dich hier anmelden.

Filmkritik:

Das große Fressen versammelt vier Granden des europäischen Kinos: Michel Piccoli, Marcello Mastroianni, Philippe Noiret und Ugo Tognazzi spielen vier Männer, die des Lebens trotz hohen beruflichen Ansehens und finanzieller Unabhängigkeit überdrüssig sind. Gemeinsam ziehen sie in eine Villa, um sich buchstäblich zu Tode zu fressen.

Mit diesem Nihilismus sorgte der Film schon während seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes für Diskussionen. Überliefert ist ein körperliches Unwohlsein der Jurypräsidentin Ingrid Bergman nach der Vorstellung; dokumentiert ist die Pressekonferenz, auf der sich Regisseur Marco Ferreri hitzige Diskussionen mit den Teilnehmern lieferte. Wenig überraschend ging Das große Fressen beim Wettbewerb um die Goldene Palme leer aus, gewann aber immerhin den Preis der internationalen Kritikervereinigung FIPRESCI.

Ferreris Werk steht in einer Reihe von europäischen Skandalfilmen, die im Klima der Siebziger Jahre gediehen: Schon 1972 porträtierte Bernardo Bertolucci einen weiteren Lebensmüden in Der letzte Tango in Paris; Themroc schwor der modernen Konsumgesellschaft ab; es folgten Der Nachtportier, Die 120 Tage von Sodom und Caligula.

Das große Fressen startet ungleich fröhlicher als die vorgenannten Werke: Die Freunde nehmen eine umfangreiche Lebensmittellieferung in Empfang und bereiten die ersten Gänge zu. Das Pariser Delikatessengeschäft Fauchon lieferte für den Film Gaumenfreuden im Wert von 200.000 €. Da im Schlaraffenland der Sex nicht fehlen darf, werden spontan drei Freudendamen und die Lehrerin der benachbarten Schule eingeladen.

Ferreri verlässt sich über weite Strecken auf die Präsenz seiner Darsteller und setzt stark auf Improvisation: Piccoli und Co. treten unter ihren realen Vornamen auf, quasseln ungekünstelt miteinander und reißen Witze. Daraus entsteht eine heitere Stimmung, die nicht zum Ruf des Skandalfilms passt. Ferreri ist offenkundig nicht darauf aus, ein sensationslüsternes Publikum zu bedienen, das Geschehen erweist sich in der ersten Filmhälfte als überraschend zahm.

Auf der Handlungsebene bleibt Das große Fressen rudimentär, die immer neuen Lustbarkeiten ergeben einen bald zur Beliebigkeit tendierenden Reigen. Selbst die musikalische Untermalung von Philippe Sarde wiederholt sich fortwährend. Da sich die vier Männer alle mit der gleichen Begeisterung ins Buffet stürzen, gehen ihnen individuelle Charakterzüge ab.

Freilich lässt sich der Rückzug in die Villa als Flucht vor der Außenwelt deuten. In diesem Refugium des Hedonismus dürfen die Vertreter der Bourgeoisie die Maske der Bürgerlichkeit fallen lassen, mit ironischem Augenzwinkern blickt der Film auf vier Männer, die wieder Kindsköpfe sein dürfen. Allerdings betonte Ferreri seinerzeit, er habe keinen psychologischen, sondern einen physiologischen Film gedreht.

Den Gegnern von Das große Fressen missfielen damals ohnehin nicht die gesellschaftskritischen Untertöne, sondern die körperlichen Ergebnisse des hemmungslosen Konsums: Die Unwucht der inneren Säfte führt in der zweiten Filmhälfte zu in Lautstärke und Dauer beeindruckenden Flatulenzen, und längst verabschiedete Nahrungsreste kommen in Form eines explodierenden Klos wieder zum Vorschein – eine Zumutung für viele Augenzeugen des Jahres 1973.

Subtilität ist in der Tat keine Stärke von Marco Ferreri, doch sein Verzicht auf Feigenblätter produziert wirkungsvolle Filme mit einer eindeutigen Haltung. Spätestens wenn Piccolis aufgeblähter und bettlägeriger Protagonist mit immer neuen Löffeln buttrigen Kartoffelpürees gefüttert wird, kippt Das große Fressen. Die Völlerei der alten Herren schlägt selbst die hart gesottenen Dirnen in die Flucht, auch für uns Zuschauer läuft sich der jungenhafte Schabernack tot.

Das radikale Element des Films liegt in der Verweigerung Ferreris, das Handeln seiner Protagonisten zu begründen. Doch weil die Pointe eines Witzes ohne die Einleitung nicht amüsant ist, tritt der Humor in dieser Farce in den Hintergrund, übrig bleibt ein trauriger Fatalismus, der umso tragischer erscheint, weil es mannigfaltige Auswege geben müsste. Doch anstatt ihre wohlstandsinduzierte Langeweile zu bekämpfen, konsumieren sich die Männer lieber zu Tode – eine Haltung, die angesichts von Fast Food, Fast Fashion und Binge Watching aktueller als je zuvor ist.

Auch deshalb lohnt ein Blick auf das Verhalten der von Andréa Ferréol gespielten Lehrerin, die allen Männern gibt, was sie begehren. Andréa bleibt selbst dann, als das Sterben beginnt, und begleitet die Herrenrunde bis zum bitteren Ende. Doch obwohl sie sich den Gaumenfreuden und den fleischlichen Gelüsten hingibt, lässt sie sich davon nicht vereinnahmen. Ihre Figur ist die ambivalenteste und interessanteste des Films, der ihre Haltung nie auflöst.

Obwohl Das große Fressen eindeutig ein Produkt seiner Zeit ist, formuliert er eine allgemeingültige Absage an einen Konsumismus, der das gesellschaftliche Zusammenleben zersetzt. Marco Ferreris tragikomische Farce konfrontiert uns mit Menschen ohne Wertgefüge, die ihr inneres Vakuum durch immer größere Exzesse auszugleichen versuchen, was zwangsläufig in den Untergang führt.

★★★★☆☆

1970 – 1979

Die durch die neuen Wellen der Sechziger Jahre eingeleiteten Veränderungen nahmen auch in den Siebzigern Einfluss. In den USA entstand das New Hollywood und in Europa u.a. der Neue Deutsche Film. Erstmals kumulierten hohe Studiobudgets und die Kreativität junger Regisseure. Gegen Ende der Siebziger sorgte eine neue Entwicklung für die Wende: Die ersten Blockbuster erschienen und etablierten das Konzept marketinginduzierter Kino-Franchises.

Komödie

Die Komödie zählt zu den Grundfesten des Kinos und funktioniert – wie auch der Horrorfilm – affektgebunden. Deshalb bringt uns der Slapstick aus den Stummfilmen von Charlie Chaplin genauso zum Lachen wie die rasenden Wortgefechte der Screwball-Komödien aus den Dreißiger Jahren, die spleenigen Charaktere von Woody Allen oder die wendungsreichen Geschichten von Billy Wilder.