Wilde Erdbeeren

Ein Film von Ingmar Bergman

Genre: Drama

 

 | Erscheinungsjahr: 1957

 | Jahrzehnt: 1950 - 1959

 | Produktionsland: Schweden

 

Wilde Erdbeeren zählt vielleicht deshalb zu den beliebtesten Klassikern von Ingmar Bergman, weil der Regisseur wie gewohnt die großen Themen des Lebens angeht, dabei aber ungewohnt melancholisch inszeniert. Der Film kommt ohne die schwere Düsternis aus, die dem schwedischen Meisterregisseur (zu) oft unterstellt wird, und gewann bei der Berlinale 1957 den Goldenen Bären.

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Diese Kritik ist Teil einer langfristigen Retrospektive zu Ingmar Bergman. Alle Infos dazu sind hier zu finden.

Filmkritik:

Wilde Erdbeeren ist ein Road-Movie: Der 78-jährige Isak Borg unternimmt eine mehrstündige Autofahrt zu seiner alten Universität, die ihn anlässlich des 50. Jahrestages seiner Promotion ehrt. Die Reise bedeutet eine Zäsur für den alten Mann, der sein Leben der Arbeit gewidmet hatte und dabei immer abweisender und egoistischer wurde. Eine Reihe von Zwischenhalten weckt verschüttete Erinnerungen und löst Albträume aus, sodass Borg sein Leben erstmals kritisch reflektiert.

Nach Bergmans internationalen Durchbruch mit Das Lächeln einer Sommernacht im Jahr 1955 ließ der schwedische Regisseur 1957 gleich zwei Meilensteine folgen: Das siebente Siegel und Wilde Erdbeeren. Letzterer markiert die bis dato reifste Arbeit des immer noch jungen Filmemachers. Er ließ die historischen Settings, Genre-Elemente und verspielten Ideen zurück, reduzierte und verdichtete seinen Film und schuf so einen vordergründig simplen, aber formal wie inhaltlich komplexen Klassiker.

Der alte Isak Borg wird vom ebenso alten Victor Sjöström gespielt, weshalb sich mit Wilde Erdbeeren ein Kreis schließt. Sjöström, einst einer der führenden Regisseure der Stummfilmära, ist eng mit Bergmans Werdegang verbunden. Der Fuhrmann des Todes überwältigte Bergman schon im Kindesalter und zeigte ihm die Magie des Kinos auf; als der junge Regisseur mit seinem Debütfilm Krise kämpfte, schickte das Studio den alten Hasen als Berater vorbei. Sjöström wurde dem ehrgeizigen Talent ein Mentor.

Nach Jahren weitab der Öffentlichkeit ließ sich der 78-jährige Sjöström dazu überreden, die Hauptrolle in Wilde Erdbeeren zu spielen. Sie sollte ein würdiges Vermächtnis werden – Sjöströms schauspielerische Leistung ist sensationell. Ohne großes Aufheben verleiht er dem Protagonisten eine in sich ruhende Tiefe und offenbart inmitten sparsamer Blicke und Gesten ein weites Spektrum an Emotionen.

Es ist faszinierend, wie Bergman das Leben der Hauptfigur bis in ihre Tiefen hinein auslotet und dabei im Grunde einfachen Ideen folgt, die sein Unterfangen stets mühelos aussehen lassen. Er nähert sich Borg von zwei Seiten: Während der Reise kommt es zu einer Reihe von Begegnungen, die Borg rational und argumentativ herausfordern, während eine Reihe von Erinnerungen und Albträumen seine irrationalen und emotionalen Empfindungen anzapft.

Es gehört zu den Grundtugenden von Road-Movies, den Protagonisten durch einen konstanten Fluss von Nebenfiguren zu spiegeln und Wilde Erdbeeren illustriert dieses Prinzip auf ideale Weise. Die Eheprobleme der mit Borg reisenden Schwiegertochter konfrontieren den Professor mit seinem mangelhaften Familienleben; die unbekümmerte Lebenslust dreier junger Anhalter lässt Borg über Alter, Lebenserfahrung und Verantwortung reflektieren; das frostige Treffen mit seiner greisen Mutter erklärt die zurückweisende Art des Sohnes.

Dem gegenüber stehen Rückblenden in die Kindheit, die Borgs Vergangenheit erklären und zugleich verdeutlichen, wie leicht sein Werdegang einen komplett anderen Verlauf hätte nehmen können. Zudem wohnt den Erinnerungen eine Wärme inne, die die Melancholie des Alterns beschwört. Den Kontrast dazu setzen die berühmten Albtraumszenen, die Borg mit seinem baldigen Tod konfrontieren. Sie ermöglichen trotz ihrer Surrealität konkrete Rückschlüsse auf das Innenleben des Protagonisten.

Zudem geben die Traum- und Erinnerungswelten Bergman den Raum für expressive Bilder und kreative Ideen, doch auch im Wachzustand bietet Borgs Welt viel Sehenswertes. Bergmans technische Meisterschaft zeigt sich selbst dann, wenn zwei Figuren einen Dialog in einem Auto führen – von der Perspektivwahl über die Beleuchtung bis zur Kameraführung bleibt Wilde Erdbeeren visuell durchgehend spannend.

Im Gegensatz zu seinem Frühwerk konnte der Regisseur inzwischen auch auf starke Schauspieler zurückgreifen, wobei neben Sjöström besonders Ingrid Thulin und Bibi Andersson herausstechen, die für viele Jahre zu Bergmans Ensemble gehören sollten.

Wilde Erdbeeren ist ein in jeder Hinsicht souveränes Werk, dessen elegante Inszenierung Bergmans Reifeprozess belegt. Der Film eignet sich ideal als Einstieg in das Schaffen des schwedischen Meisterregisseurs und widerlegt das Vorurteil, Bergman würde nur finstere Trübsinnsfilme drehen, die ihre Zuschauer mit den Seelenqualen ihrer Protagonisten martern.

★★★★☆☆

Ingmar Bergman

In seinen rund 50 Filmen erforschte Ingmar Bergman die dunklen Seiten der menschlichen Psyche – Sex und Tod, Glaube und Hass nehmen zentrale Plätze im Schaffen des Schweden ein. Die düsteren Bilder unterstreichen diese Themenwahl nachhaltig und vermitteln oft eine Stimmung existenzieller Krisen. 1997 erhielt Bergman bei den Filmfestspielen in Cannes einen Sonderpreis als „bester Regisseur aller Zeiten“.

Drama

Der Dramabegriff dient als Auffangbecken für Filme, die sich keinem spezifischerem Genre zuordnen lassen. Dementsprechend viele Schattierungen ergeben sich: vom Sozial- über das Gesellschaftsdrama, das Melodram und die Tragikomödie. Die Gemeinsamkeiten dieser Subgenres liegen in realistischen, konfliktreichen Szenarien und einer Konzentration auf die Figuren.