Psycho
Ein Film von Alfred Hitchcock
Psycho lebt nicht von Stars und Schauwerten, sondern vom puren Genius Alfred Hitchcocks. Der Master of Suspense erfand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere neu: Anstatt weiter elaborierte Großprojekte zu drehen, adaptierte er einen B-Movie-Stoff. Sein „kleines“ Meisterwerk schockte das Publikum und setzte den Grundstein des modernen Horrorkinos.
Filmkritik:
Psycho handelt zunächst von einer Kurzschlussreaktion: Die Büroangestellte Marion Crane unterschlägt spontan 40.000 Dollar ihres Arbeitgebers und begibt sich auf die Flucht zu ihrem Liebhaber. Eine gewöhnliche Hauptfigur, die sich plötzlich in einer ungewöhnlichen Lage wiederfindet – ein typisches Sujet Hitchcocks, der sich Ende der Fünfziger Jahre auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand.
Der britische Regisseur hatte mit Werken wie Das Fenster zum Hof, Vertigo und Der unsichtbare Dritte Hollywood erobert und sich selbst erfolgreich als Marke etabliert. Hitchcock stand für beste Unterhaltung, die wesentlich durch Sophistication geprägt wurde: Seine Kriminalfilme waren nicht nur spannend, sie zeichneten sich durch ein spielerisches Augenzwinkern aus.
Doch Psycho bricht mit den vorhergehenden Arbeiten. Hitchcock plante seinen letzten noch ausstehenden Film für Paramount mit dem ungewöhnlich niedrigen Budget von 800.000 Dollar und griff größtenteils auf die TV-Crew von Alfred Hitchcock presents zurück. Er drehte in altmodischem Schwarz-Weiß und verpflichtete nur einen einzigen Star, die aus Nackte Gewalt und Im Zeichen des Bösen bekannte Janet Leigh.
Vorgeblich bediente Psycho die damalige Erwartungshaltung: Wir folgen Janet Leighs Protagonistin durch einige Spannungsszenen und lehnen uns erleichtert zurück, als sie in einem abgelegenen Motel zur Ruhe kommt. Die kurze Atempause vor der nächsten vergnüglichen Volte führt uns in die Irre, denn Hitchcock hat ein unerhörtes Schurkenstück in petto: Er ermordet die vermeintliche Hauptfigur!
Es ist die berüchtigsten Mordszene der Kinogeschichte: Nackt unter der Dusche stehend, wird Marion Crane von der alten Motelbesitzerin erstochen. Die Szene ist ein oft analysiertes Meisterstück: 70 Schnitte in 45 Sekunden stechen auf uns ein, noch verstärkt durch das legendäre Geigenmotiv von Bernard Herrmann. Zuschauer, die sich in einem spielerischen Kriminalfilm wähnten, fanden sich plötzlich in einem grausigen Horrorfilm wieder.
Bei der Abnahme konnten die Zensoren des Hays Office gar nicht glauben, was sie nicht sahen. Frame für Frame wurde die Szene abgespult, ohne dass nackte Tatsachen oder die Penetration des Messers ins Bild kamen. Die brillante Montage erzeugt diesen Eindruck lediglich in unserem Kopf. Die Arbeit an dieser Szene nahm sieben Drehtage – ein Drittel der Drehzeit von Janet Leigh – in Anspruch und brannte sich in die Ikonografie des Horrorgenres ein.
Der Einfluss von Psycho erstreckt sich weit über seine bekanntesten Momente hinaus. Da die mörderische Norma Bates immer wieder neue Opfer ins Visier nimmt, lässt sich Hitchcocks Werk als Urvater des Slasher-Films ansehen, der erst Jahre später durch italienische Gialli und besonders durch John Carpenters Halloween populär werden sollte.
Sehr modern war auch die Erkenntnis, dass das Böse nur eine falsche Abfahrt vom Highway entfernt mitten in der amerikanischen Provinz lauern kann. Psycho nahm mit diesem Backwood-Horror Tobe Hoopers Meilenstein The Texas Chainsaw Massacre vorweg. Beide Filme teilen sich zudem den losen Bezug zu den Taten des Serienmörders Ed Gein; Robert Blochs Romanvorlage zu Psycho knüpfte an Geins Morde an.
Hitchcock hatte sich schon in vorherigen Arbeiten (Rebecca, Ich kämpfe um dich, Vertigo) immer wieder mit den abseitigen Facetten der menschlichen Psyche auseinandergesetzt und trieb diese Motive nun auf die Spitze. Mit einem Plot, der auf krankhaften psychologischen Auswüchsen aufbaut, etablierte er (gemeinsam mit dem damals verkannten britischen Skandalfilm Augen der Angst) das Subgenre des Psychothrillers.
In Psycho ist der psychologische Konflikt essenziell, um den Abgang der vermeintlichen Protagonistin zu kompensieren. Nach dem Mord in der Dusche rückt der unbedarfte Norman Bates ins Zentrum der Geschichte. Der junge Mann ist in einer Hassliebe zu seiner herrschsüchtigen und eifersüchtigen Mutter gefangen. Sie tötet jede junge Frau, die ihr den Sohn rauben könnte; Norman muss sich um die alte Frau und das abgehalfterte Motel kümmern und regelmäßig die Missetaten seiner Mutter verschleiern.
Der seinerzeit unbekannte 27-jährige Anthony Perkins spielt das Muttersöhnchen überragend. So gelingt es Hitchcock, uns aufs Neue einzuwickeln: Sympathisierten wir gerade noch mit der dieberischen Marion Crane, schwenken wir flugs auf den jungen Mann um, der verzweifelt ihr Blut von den Fliesen wischt.
Auch die Inszenierung von Psycho ist makellos: Trotz des limitierten Budgets und einer eingespielten, aber wenig namhaften Crew fügen sich alle Puzzlestücke nahtlos zusammen. Jede Einstellung erzählt etwas, enthüllt Details oder zahlt auf einen Effekt ein. Die sorgsam komponierten Kameraperspektiven, wunderschönen Zooms und perfekt getimten Schnitte halten das Tempo hoch und die Erzählung lebendig.
Um den maximalen Effekt aus den Überraschungen der Handlung zu ziehen, lief auch die Marketing-Maschinerie auf Hochtouren: Entgegen der damaligen Praxis wurden die Kinos angewiesen, nach Beginn einer Vorführung von Psycho keine Zuschauer mehr einzulassen – ein genialer Schachzug, der zu langen Schlangen führte und für Gesprächsstoff sorgte. Zudem wurde inständig darum gebeten, die große Überraschung des Films nicht zu verraten, was Hitchcocks Werk zu einem der ersten Filme mit einem Twist und der dazugehörigen Spoiler-Kultur machte.
Weniger clever war die Entscheidung, alle Pressevorführungen zu streichen; die Kritiker sahen sich gezwungen, den Film am Eröffnungstag mit dem regulären Publikum zu sehen. Vielleicht blieb das Echo der Fachpresse auch deshalb verhalten; der ungewöhnlichste Hitchcock-Film seit Jahrzehnten überzeugte längst nicht alle.
Diese Rezeptionshaltung hat sich längst geändert: Psycho ist als unumstrittener Meilenstein der Kinogeschichte anerkannt. Die Musik von Bernard Herrmann, die grandiose Darbietung von Anthony Perkins (dessen Karriere für immer von diesem frühen Erfolg dominiert werden sollte) und die waghalsigen Entscheidungen Hitchcocks prägen das Horrorgenre bis heute.
Eine interessante Fußnote bietet die 23 Jahre später erschienene Fortsetzung, die natürlich nicht die Klasse des Originals erreicht, sich dem Stoff aber wertschätzend nähert und die Geschichte effektvoll weiterspinnt. Teil drei und vier sowie das völlig überflüssige 1:1-Remake aus dem Jahr 1998 sollten dann aber wirklich ignoriert werden.
★★★★★★
Alfred Hitchcock
Alfred Hitchcock ist wohl der bekannteste Regisseur der Welt. Diesen Ruf erwarb sich der Brite mit einer cleveren Selbstvermarktung, aber auch durch unzählige Meisterwerke. Im Lauf seiner 50-jährigen Karriere sicherte sich Hitchcock eine größtmögliche künstlerische Freiheit und schuf dank seiner handwerklichen Brillanz fesselnde Krimis und Thriller, die ihm den Beinamen Master of Suspense einbrachten.
Horrorfilm
Das Horrorgenre gibt uns die Möglichkeit, Schreckensszenarien durchzuspielen und damit Stress aus unserem Unterbewusstsein abzuleiten. Der Horrorfilm bedroht immer die Normalität – sei es durch Geister, Monster oder Serienkiller. In der Regel bestrafen die Antagonisten die Verfehlungen von Sündern, inzwischen verarbeiten postmoderne Horrorfilme diese Motive jedoch auch ironisch und verbreitern damit die ursprünglichen Sujets des Genres.