Rom, offene Stadt

Ein Film von Roberto Rossellini

 | Erscheinungsjahr: 1945

 | Jahrzehnt: 1940 - 1949

 | Produktionsland: Italien

 

Rom, offene Stadt zählt zu den essenziellen Werken des Italienischen Neorealismus und verhalf der Strömung zu internationaler Bekanntheit. Die schnörkellose und doch effektvolle Inszenierung von Roberto Rossellini verleiht dem Film eine große Wahrhaftigkeit und prägte die Sprache des Kinos.

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Filmkritik:

Rossellini begleitet drei Hauptfiguren über fünf Tage hinweg durch das von Nazideutschland besetzte Rom des Jahres 1943: Der Widerstandskämpfer Giorgio Manfredi ist ständig auf der Flucht; der Priester Pietro Pellegrini unterstützt heimlich die Partisanen; die schwangere Witwe Pina fürchtet um ihren Verlobten, der ebenfalls im Untergrund aktiv ist.

Rom, offene Stadt entstand unter bemerkenswerten Umständen: Im Juni 1944 marschierten alliierte Truppen in Rom ein, schon wenige Monate später – die Nazis hielten Oberitalien noch besetzt – begannen die Dreharbeiten. Rossellini beschaffte sich ein kleines Budget und drehte auf Filmmaterialresten. Selbst der Ton musste nachsynchronisiert werden.

Doch die prekären Umstände passten sogar in das Konzept des Regisseurs, der ohnehin einen Gegenentwurf zum faschistischen Kino plante. Dessen Telefoni Bianchi spielten in bourgeoisen Kreisen; die in diesem weltfremden Milieu angesiedelten Geschichten blendeten die Sorgen und Nöte der Bevölkerung aus.

Rossellini ließ die protzigen Dekors und die Falschheit dieser Ära hinter sich und führte den Ansatz von Luchino Viscontis erstem neorealistischem Werk Ossessione fort. Der Regisseur setzte auf Originalschauplätze und Laienschauspieler, um eine wahrhaftige Darstellung „echter“ Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit zu erreichen.

Schon der Filmtitel Rom, offene Stadt spiegelt diese Intention wider, denn er führt in die Irre. Im internationalen Kriegsrecht definiert der Terminus eine militärisch nicht genutzte Stadt, die daher von Kriegshandlungen auszunehmen ist. Das Rom des Jahres 1943 könnte von diesem Status nicht weiter entfernt sein: Die deutschen Nationalsozialisten halten die Hauptstadt des zerfallenden Bündnispartners in eiserner Hand.

Trotzdem ist der Filmtitel ungemein passend, denn er steht für den Identitätsverlust der Römer. Rossellini nutzt den militärischen Ausdruck, um ihren schicksalhaften Wesenszustand auf den Punkt zu bringen: Die Stadt ist nicht im politischen Sinne offen, sondern im ökonomischen, moralischen, gesellschaftlichen und sozialen. Die „offene Stadt“ markiert einen Ort, der seinen Bewohnern alles nimmt, was das Menschsein ausmacht.

Rossellini nimmt sich viel Zeit, um diesen Zustand zu illustrieren: Die erste Filmhälfte verzichtet auf eine konventionelle Handlung und erzählt lose vom Alltag seiner Protagonisten. Trotz des Szenarios gerät Rom, offene Stadt nicht zum trübsinnigen Drama, sondern weiß zu unterhalten: Er fährt gelungene Spannungsszenen auf und besitzt sogar humoristische Spitzen, die aus der Feder von Co-Drehbuchautor Federico Fellini stammen.

Erst mit einem tragischen Tod kippt der Tonfall des Films. In der zweiten Hälfte konzentriert sich Rom, offene Stadt stärker auf den fatalistischen Plot. Die vorherige Ambivalenz tauscht Rossellini nun gegen deutliche Aussagen: Er verbindet den Kapitalismus mit dem Faschismus und propagiert ideelle Werte wie Kameradschaft und Vertrauen. Für Furore sorgt eine Foltersequenz, die der Regisseur zum Kampf zwischen den vermeintlichen deutschen Herrenmenschen und dem italienischen Volk stilisiert.

Diese Metapher sowie einige Zuspitzungen lassen sich als Reste des konventionellen Kinos deuten und kommen bei späteren Vertretern des Neorealismus nicht mehr vor. Für Rom, offene Stadt bedeuten die melodramatischen Einflüsse jedoch einen erheblichen Gewinn: Sie entwickeln eine dem Thema angemessene Dramatik und verleihen Rossellinis Werk eine größere Komplexität.

Mit seinem Erfolgsfilm startete der Regisseur eine neorealistische Trilogie, zu der die thematisch ähnlich gelagerten Arbeiten Paisà und Deutschland im Jahre Null gehören. Andere Filmemacher folgten Rossellinis Beispiel und drehten (u. a. mit Fahrraddiebe, Umberto D. und Die Schwindler) einige der größten Klassiker des italienischen Kinos.

Dank eines amerikanischen Produzenten, der Rom, offene Stadt ins Ausland exportierte, fand die Strömung auch international ein breites Echo. Mit seiner neuen Filmsprache produzierte der Italienische Neorealismus zahllose ähnliche Filme auf der ganzen Welt: Luis Buñuels Die Vergessenen in Mexiko, in Ägypten Tatort Hauptbahnhof Kairo, in Korea Aimless Bullet und in Algerien Schlacht um Algier.

★★★★★☆

1940 – 1949

Das Kino der Vierziger Jahre spielte sich im Schatten des Zweiten Weltkrieges ab, weshalb die Werke der Ära zu den düstersten der Filmgeschichte zählen. Finstere Bilder und ein ernster Tonfall dominierten die Lichtspielhäuser: mit dem fatalistischen Film Noir in den Vereinigten Staaten und den pessimistischen Dramen des Italienischen Neorealismus in Europa.

Italienischer Neorealismus

Noch während des Zweiten Weltkrieges schwang sich der Italienische Neorealismus zu einer bedeutenden Filmströmung auf, die sich nach dem Ende des Krieges voll entfaltete. Die Werke dieser Ära schildern die kläglichen Lebensumstände der unteren Bevölkerungsschichten und nutzen dabei eine semidokumentarische Inszenierung, die den Filmen zugunsten der Wahrhaftigkeit alles Künstliche austreiben sollte.