Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen
Ein Film von Robert Bresson
Mit Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen veränderte Robert Bresson die Sprache des Kinos und avancierte zu einem Vorreiter des transzendenten Films. Sein Gefängnisdrama bricht mit erzählerischen Konventionen, setzt auf strikte Reduktion aller Stilelemente und lädt das Geschehen dennoch mit Bedeutung auf.
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Filmkritik:
Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen basiert auf wahren Begebenheiten und spielt im besetzten Frankreich des Jahres 1943. Im Lyoner Gestapo-Gefängnis Fort Montluc warten inhaftierte Widerstandskämpfer der Résistance auf ihre Todesurteile. Unter ihnen befindet sich auch Lieutenant Fontaine, der in seiner Einzelzelle nicht resigniert, sondern an der Flucht arbeitet.
Bressons Werk schildert die akribische Vorbereitung in allen Details. Dabei konzentriert sich der Film auf den physischen Akt des Ausbruchs: Er zeigt uns etwa minutenlang, wie der Protagonist einen Spalt in seine hölzerne Zellentür feilt und findet in diesem Kontrast aus Eintönigkeit und der Gefahr der Entdeckung eine ungewöhnliche Spannung.
Mit dieser Konzentration auf das Wesentliche setzte Bresson Maßstäbe und schuf einen essenziellen Vertreter des Gefängnisfilms, dessen Qualität nur noch von Jacques Beckers Das Loch erreicht wurde. Die beiden Klassiker teilen sich viele Gemeinsamkeiten und sind doch grundverschieden; ihr Vergleich offenbart, warum Bressons Werk so außergewöhnlich ist.
Beide Filme verzichten auf ein klassisches Storytelling: Die manuelle Arbeit des Ausbruchs ersetzt eine Handlung, die Häftlinge erhalten keinerlei Biografie, auf außenstehende Figuren wird verzichtet. Formal überzeugen beide Werke durch eine minimalistische Inszenierung, in ihrer Schlichtheit ansehnliche Schwarz-Weiß-Bilder und das Fehlen von Musik.
Doch wo Das Loch aus diesen Mitteln einen kühlen Thriller formt, zielt Robert Bresson über die Konventionen des Kinos hinaus: Er fand einen neuen Stil des Filmemachens und widmete sich diesem für den Rest seiner Karriere. Mit Pickpocket und Zum Beispiel Balthasar stieg er in den Folgejahren zu einem den großen Formalisten der Kinogeschichte auf.
Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen lebt von einem wesentlichen Detail: Im Gegensatz zu den Verbrechern in Das Loch ist Bressons Lieutenant Fontaine unschuldig und wurde aufgrund seines moralischen Handelns gegen die Nazis inhaftiert. Bresson stellt ihn damit in eine Reihe mit Jeanne d’Arc, deren Kerkerzeit der katholisch geprägte Regisseur einige Jahre später ebenfalls verfilmen sollte.
Für Bressons Perspektive ist die moralische Reinheit des Protagonisten von entscheidender Bedeutung, weil sie den Akt des Ausbruchs nicht als bloßen Widerstand gegen Autorität determiniert, sondern darin die Fortsetzung des Kampfes für eine gerechte Sache sieht. Doch bei Bresson steht vor jeder Aktion immer das Erlangen einer inneren Haltung – des Glaubens.
Die Wechselwirkungen von Glauben und Leiden bilden das Zentrum in der Filmografie des Auteurs, der daraus schon in Tagebuch eines Landpfarrers einen inneren Konflikt zog. Dieser Film bedeutete den Urknall für Bressons stilistische Entwicklung: Auf der Suche nach erzählerischer Reinheit verzichtete der Regisseur auf professionelle Schauspieler, reduzierte die Filmsprache aufs Wesentliche und begann damit, die Ton- von der Bildebene zu lösen.
In Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen führte Bresson diese Entwicklung erstmals in höchster Konsequenz durch, mit der Gefängniszelle als idealem Setting – kahl und wertfrei, eine Projektionsfläche aus Beton. Passend dazu der Gefangene, dessen Geschichte wir nicht kennen und der stumm und allein in der Zelle sitzt. In dieser Situation gibt es nichts zu erzählen, kein dramaturgisches Gerüst und keine wechselnden Stimmungen.
Bressons dokumentarische Kamera konzentriert sich darauf, die Oberflächen und die physischen Handlungen des Gefangenen abzubilden. Die Bilder erzählen nicht, sie zeigen lediglich. Folglich erfahren wir durch die Bilder nichts über das Innenleben des Protagonisten, die Abkehr vom Storytelling verweigert uns alle Bedeutungsebenen abseits der sichtbaren Oberfläche.
Damit nimmt Bresson einen paradoxen Kunstgriff vor: Die Betonung der Äußerlichkeiten lässt einen Leerraum abseits des Physischen und verdeutlicht zugleich, dass es da noch eine weitere, eine unsichtbare Ebene gibt, auf der sich etwas abspielt, dessen Ausdruck wir dann im Körperlichen sehen. Dieser spirituelle Gegenpart kann sowohl als göttliche Kraft als auch als Abbild der menschlichen Seele gelesen werden.
Die Trennung von Körper und Geist vollzieht Bresson mittels einer für ihn charakteristischen Differenz von Bild und Ton. Das Voice-over mit Fontaines Gedanken schafft eine Distanz zum Tun seines Körpers und greift dabei bewusst auf Überlappungen zwischen den Ebenen zurück.
Wenn der Häftling aus Drähten eine Schlinge formt und uns diesen Einfall zusätzlich über den Ton mitteilt, dann ist das kein schlechtes Erzählen (wie in Die Verurteilten), sondern eine Methode, um den Leerraum zwischen den Ebenen zu verstärken und die erzählerische Einheit aufzubrechen.
Dies tut Bresson in Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen zum ersten Mal konsequent – er löst die Narration des Mediums Film auf und formt aus den Fragmenten ein Werk, das nicht länger erzählt, sondern mit Bedeutung aufgeladene Zustände zeigt. In dieser Logik ist alles Tun – das Ritzen an der Tür, das Knüpfen eines Seils – nie nur bloße Tätigkeit, sondern immer auch Ausdruck des Spirituellen.
Diese Doppelbödigkeit aus reduzierten Bildern und darin eingebetteter Bedeutung erschloss Paul Schrader 1972 in seinem Standardwerk Transcendental Style in Film. Er verband Bressons Schaffen mit den ähnlich gelagerten Werken von Carl Theodor Dreyer und Yasujirō Ozu und führt aus, wie die Filmemacher die Kinogeschichte bis heute beeinflussen – in den Werken von Theo Angelopoulos und Béla Tarr, Nuri Bilge Ceylan und Slow Cinema-Vertretern wie Pedro Costa und Lav Diaz.
Abseits seiner filmhistorischen Bedeutung ist Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen umwerfend in Szene gesetzt: Die Kamera und der Schnitt erschließen die Zelle aus immer neuen Perspektiven und bestechen durch eine schlichte Eleganz.
Zudem entwickelt sich der Film emotionaler, als sein nüchterner Stil erahnen lässt. Die wortlose Spannungsszene zu Beginn des Films würde jedem Thriller von Jean-Pierre Melville zur Ehre gereichen und wenn die letzte Szene einige Takte Mozart anschlägt, findet Bresson einen berührenden Schluss für diesen großen Film.
★★★★★☆
Robert Bresson
Für Robert Bresson dienten Filme nie dem Zweck, Geschichten zu bebildern. Dem „literarischen Kino“ schwor er ab und entwickelte eine eigene Filmsprache, deren spröde Strenge uns Zuschauer herausfordert. Bressons markante Inszenierung ist für die Trennung von Bild- und Tonebene berühmt und ermöglicht uns, tiefere Wahrheiten zu entdecken. Die Größe von Bressons reduziertem Kino entsteht nicht auf der Leinwand, sondern im Kopf des Zuschauers.
Drama
Der Dramabegriff dient als Auffangbecken für Filme, die sich keinem spezifischerem Genre zuordnen lassen. Dementsprechend viele Schattierungen ergeben sich: vom Sozial- über das Gesellschaftsdrama, das Melodram und die Tragikomödie. Die Gemeinsamkeiten dieser Subgenres liegen in realistischen, konfliktreichen Szenarien und einer Konzentration auf die Figuren.